Mainz. (ots)
Nicht zweimal in derselben Sache – lateinisch „ne bis in idem“ – lautet einer der wichtigsten Grundsätze der Rechtsprechung. Das Grundgesetz buchstabiert ihn in Artikel 103 aus – und wer möchte widersprechen, dass es falsch wäre, eine Person für eine Straftat zweimal zur Rechenschaft zu ziehen. Doch kann ein im Prinzip unstrittiger Rechtsgrundsatz im Einzelfall zu einer Entscheidung führen, die nur schwer zu ertragen ist. So im Fall eines Angeklagten, der vor Jahrzehnten vom Vorwurf der Vergewaltigung und des Mordes aus Mangel an Beweisen freigesprochen wurde, im Lichte neu aufgetauchter Erkenntnisse aber mehr denn je als Täter infrage kommt.
Sollte man den Tatverdächtigen nicht wieder vor Gericht stellen dürfen? Ja, sagt der gesunde Menschenverstand. Ja, hat auch die große Koalition gesagt und 2021 an der Strafprozessordnung geschraubt, damit in solchen Fällen eine erneute Strafverfolgung möglich wird. Nein, hat jetzt das Bundesverfassungsgericht gesagt und deshalb die Gesetzesänderung für nichtig erklärt. Damit bleibt ein Mord wohl ungesühnt, für die Angehörigen des Opfers ein schlimmes Ende. Die Begründung der Verfassungshüter: Artikel 103 schütze nicht nur bereits einmal Verurteilte, sondern auch Freigesprochene vor einem erneuten Strafverfahren. So interpretieren die Verfassungsrichter den Satz: „Niemand darf wegen derselben Tat aufgrund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden.“
Man kann es so formulieren: Der Rechtsstaat hat seine Chance, den Täter vor Gericht der Tat zu überführen. Eine zweite bekommt er nicht. Muss das so sein? Ja. Dürfte der Rechtsstaat es erneut versuchen, würde das in letzter Konsequenz der Willkür Tür und Tor öffnen – es könnte so lange angeklagt werden, bis eine Verurteilung zustande kommt. In einer Demokratie mit unabhängiger Justiz mag das sehr theoretisch klingen. Auch gibt es andere demokratische Rechtssysteme, die eine erneute Anklage in bestimmten Fällen zulassen. Karlsruhe legt hier einen besonders strengen Maßstab an. Das Bundesverfassungsgericht verletzt damit das Gerechtigkeitsempfinden vieler Menschen, was keine Kleinigkeit ist. In seiner Begründung beruft es sich nicht zuletzt auf die furchtbaren Erfahrungen mit einer willfährigen Justiz während zwölf Jahren Naziherrschaft. Dies habe die Mütter und Väter des Grundgesetzes bewogen, mit Artikel 103 einen starken Schutz zu formulieren. Es beruhigt, dass die Richterinnen und Richter in Karlsruhe sich diesem Erbe verpflichtet fühlen, auch wenn daraus ein Urteil erwächst, das alles andere als populär sein dürfte.
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