Main-Tauber-Kreis
Zeichen der Wertschätzung zum 1. Mai
In vielen Städten ist es geübte Praxis, dass der Oberbürgermeister im Vorfeld des 1. Mai Betriebsrätinnen und Betriebsräte zu einem kleinen Empfang einlädt. In Wertheim fand diese Veranstaltung nun zum ersten Mal statt. Und OB Markus Herrera Torrez möchte daraus künftig eine Tradition machen. „Als Zeichen der Wertschätzung und weil es mir wichtig ist, aus erster Hand zu erfahren, was die Arbeitnehmervertreterinnen und Arbeitnehmervertreter in unserer Stadt bewegt, sagte er vor den rund 50 Gästen aus 13 Betrieben, die sich im Arkadensaal versammelt hatten.
Gleich zu Beginn seiner Rede verurteilte der OB scharf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. „Dieser Krieg ist auch ein Angriff auf die europäische Friedensordnung, die auf Freiheit, Menschenrechten, Selbstbestimmung und Gerechtigkeit basiert“, zitierte er aus dem Aufruf des Deutschen Gewerkschaftsbundes zum 1. Mai. In diesem Zusammenhang verwies Herrera Torrez auf die wichtige Rolle, die den Betriebsräten seiner Meinung nach bei der Wahrung des inneren Friedens in den Unternehmen zukommt.
In vielen Betrieben in Wertheim seien Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter aus aller Herren Länder beschäftigt, auch solche mit ukrainischem oder russischem Hintergrund. „Da gilt es, gemeinsam dafür Sorge zu tragen, dass sich die Auswirkungen des Krieges nicht auf das tägliche Zusammenkommen übertragen“, so der Redner.
Vor dem Schock am 24. Februar, dem Tag des Kriegsbeginns, habe man Anlass gehabt, mit Zuversicht nach vorne zu blicken. „Corona ist zwar noch nicht besiegt, aber mir scheint, wir finden nach und nach einen Weg, damit umzugehen.“ Die Pandemie habe allen, nicht zuletzt den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, viel abverlangt. Aber es sei ihr nicht gelungen, die starke Wirtschaftskraft in Deutschland im Allgemeinen und in Wertheim im Besonderen in die Knie zu zwingen. Das habe man auch den Arbeitnehmervertretern und den Beschäftigten in den Betrieben zu verdanken. „Darüber könnte ruhig häufiger gesprochen werden“, befand der Oberbürgermeister.
Jede große Krise der Vergangenheit sei in den Unternehmen eingeschlagen und jede künftige Krise werde dies auch tun, stimmte Herrera Torrez einer Aussage von Bundespräsident Steinmeier zu. Die Auswirkungen des russischen Kriegs gegen die Ukraine seien bereits zu spüren. Es gebe Wertheimer Unternehmen, die Umsatzverluste befürchteten, und es gebe Probleme mit den Lieferketten. Das alles werde sich noch verschärfen.
Dazu komme nun noch die Inflation, die vielen Menschen Sorge mache. Man müsse kein Prophet sein, um vorauszusagen, dass die aktuelle wirtschaftliche Entwicklung Ungleichheit und Armut verstärken werde, wenn der Sozialstaat keine geeigneten Gegenmaßnahmen einleite. Ungleichheit sei eine wesentliche Ursache für Misstrauen in staatliche Institutionen und für die von manchen befürchtete Erosion der Demokratie. Als aktuelles Beispiel verwies Herrera Torrez auf die Präsidentschaftswahl in Frankreich mit mehr als 40 Prozent für eine rechtextreme Kandidatin.
Der Oberbürgermeister begrüßte in diesem Zusammenhang das vom Bundestag verabschiedete Entlastungspaket für die Bürgerinnen und Bürger, „wenngleich es sicher noch zielgerichteter hätte sein können“. Auch die Anhebung des Mindestlohnes hält er für richtig. Und nach seinem Dafürhalten könne es bei den nächsten Tarifabschlüssen nur eine deutliche Richtung geben. „Das sage ich auch aus der Sicht als Arbeitgeber für rund 500 Beschäftigte im Konzern Stadt Wertheim. Auch wenn dies zu Lasten des städtischen Haushaltes gehen wird“, es gehe dabei nicht zuletzt um die Konkurrenzfähigkeit des öffentlichen Dienstes.
Die starke Sozialpartnerschaft in Deutschland gebe es deshalb, weil Arbeitnehmer- und Arbeitgeberseite zunehmend verinnerlicht hätten, dass beide Seiten langfristig mehr vom Miteinander als vom Gegeneinander profitierten, so Herrera Torrez abschließend. Mitbestimmung sei eine Verpflichtung für beide Partner, „Beteiligung zuzulassen, Beteiligung einzufordern und Beteiligung zu leben“.
Mit der Einladung zum Empfang für Betriebsrätinnen und Betriebsräte übernehme Wertheims Oberbürgermeister „eine überregionale Vorreiterrolle“, stellte Alexander Thauer, Betriebsratsvorsitzender der Warema Renkhoff SE, als diesjähriger Gastredner fest. „Mir ist kein anderer bekannt, der die Chance zum direkten Dialog so ermöglicht“, lobte Thauer und forderte dazu auf, „dieses Angebot auch rege zu nutzen“.
Betriebsräte hätten die große, gemeinsame Aufgabe, Leben und Arbeiten miteinander zu vereinbaren. „Die Herausforderungen sind riesig und sie werden nicht geringer“, zeigte sich Thauer überzeugt. Der Redner kritisierte die, seiner Meinung nach, „inflationäre Flexibilisierung“, insbesondere bei den Arbeitszeiten. Mit der rasanten Ausbreitung des mobilen Arbeitens – „Homeoffice sagt man ja nicht mehr“ – seien die im administrativen Bereich geleisteten Mehrstunden praktisch nicht mehr sichtbar. In der Produktion wiederum sei Planbarkeit für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer kaum noch möglich. „Schichtpläne sind nur noch ein Stück Papier ohne Wert“, so Thauer.
„Was waren wir stolz auf die 35-Stunden-Woche. Aber was ist davon noch übrig? Tarifliche Arbeitszeiten sind nur noch auf einen Bruchteil der Beschäftigten anwendbar“, kritisierte der Redner und forderte von den Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, „wir müssen wieder lernen, zusammenzustehen“. Die komplette Individualisierung der Arbeitswelt mache die Belegschaften für die Arbeitgeber aufteil- und gegeneinander ausspielbar. Zu oft würden Forderungen nach dem „Ich-Prinzip“ erhoben, das „Wir“ komme dabei viel zu kurz.
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