Berlin (ots)
Kurzform: Wie will die noch regierende SPD einen erfolgreichen Wahlkampf führen, wenn ausgerechnet der Verantwortliche für die Neuwahlen selbst zur Wahl steht. Andreas Geisel ist ein Mühlstein, der immer schwerer wird. Umso unverständlicher sind die Solidaritätsadressen der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey, es sei denn, da soll schon mal ein Sündenbock für den Wahlabend aufgebaut werden.
Der vollständige Leitartikel: Der dramatischste Rücktritt, den Nachkriegsdeutschland erlebt hat, war der des Bundeskanzlers Willy Brandt (SPD). Am 24. April 1974 wurde einer seiner engsten Mitarbeiter als Stasi-Agent enttarnt: Günter Guillaume. Zwei Wochen später trat Brandt zurück, obwohl ihn keine direkte Schuld traf. Kernsatz: „Ich übernehme die Verantwortung und trete zurück.“
Am Abend nach dem Richterspruch wurde Bausenator Andreas Geisel (SPD) mit diesem Brandt-Zitat konfrontiert. Aber er hat es einfach umgekehrt: „Ich übernehme die Verantwortung und bleibe.“ Das ist, bei allem Respekt für den Menschen und Politiker Geisel, leider ein Tritt für die demokratische Kultur.
Ein zentraler Unterschied zwischen Demokratie und Nicht-Demokratie sind solche Selbstreinigungsrituale wie der Rücktritt. Diktatoren machen keine Fehler, übernehmen keine Verantwortung, die treten trotz gröbster Verfehlungen niemals ab. Der Rücktritt dagegen steht für Verantwortung und die Einsicht, dass ein Neuanfang nötig ist. Der Rücktritt ist kein Zeichen von Schwäche, sondern von demokratischer Stärke.
Ein ehrenvoller Rücktritt braucht allerdings den richtigen Zeitpunkt – möglichst früh und selbstbestimmt. So wie Margot Käßmann, die 2010 vom Amt der EKD-Ratsvorsitzenden zurücktrat, weil sie angeheitert Auto gefahren war. Oder Cem Özdemir (Grüne), der vor 20 Jahren sein Bundestagsmandat abgab wegen Bonus-Meilen und fischiger Kredite. Oder Rudolf Seiters (CDU), als Bundesinnenminister zurückgetreten, nachdem bei einer Schießerei in Bad Kleinen ein Terrorist und ein GSG9-Mann ums Leben gekommen waren. Seiters traf keine direkte Schuld, aber: Es war sein Verantwortungsbereich. Da zollt sogar der Gegner Respekt. Diesen Zeitpunkt hat Geisel verpasst.
Bleibt der Zermürbungs-Rücktritt, so wie bei Baden-Württembergs früherem Ministerpräsidenten Erwin Teufel, der von Günther Oettinger (beide CDU) gejagt wurde. Oder Bundespräsident Christian Wulff, auch wenn gar nichts Großes vorlag. Drittens ist da der alternativlose Rücktritt, weil die Verfehlungen völlig klar sind. So wie bei Franz Josef Strauß oder dem Freiherr zu Guttenberg (beide CSU). Besonderes Kennzeichen: Die Herren inszenieren sich bis zuletzt als verfolgte Unschuld.
Geisel bewegt sich irgendwo zwischen Zermürben und alternativlos. Er hat die Pannen nicht verursacht, aber sie kleben an ihm. Er trug als Innensenator die Verantwortung als Dienstherr der Berliner Verwaltung. Das hat sich in der Hauptstadt herumgesprochen und erzeugt dieses giftige BER-Gefühl zwischen Peinlichkeit und Unverständnis, dass die Stadt jetzt wieder ein halbes Jahr lahm liegt, bis wir einen neuen Senat haben. Allgemeines Genervtsein.
Wie aber will die noch regierende SPD einen erfolgreichen Wahlkampf führen, wenn ausgerechnet der Verantwortliche für die Neuwahlen selbst zur Wahl steht. Andreas Geisel ist ein Mühlstein, der immer schwerer wird. Umso unverständlicher sind die Solidaritätsadressen der Regierenden Bürgermeisterin Franziska Giffey, es sei denn, da soll schon mal ein Sündenbock für den Wahlabend aufgebaut werden.
Zur demokratischen Kultur gehört übrigens auch die zweite Chance. Ein rechtzeitiger Rücktritt muss keine lebenslänglichen Spuren hinterlassen. Gregor Gysi (Linke) ist als Wirtschaftssenator zurückgetreten, was ihm nicht geschadet hat. Und Cem Özdemir ist heute Bundesminister. Wer aber an seinem Amt klebt, die Opposition zum Dauerklatschen einlädt und dann abgewählt wird, der handelt sich womöglich einen dauerhaften Makel ein. Viel Zeit bleibt Andreas Geisel nicht mehr.
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