Berlin (ots)
Ein Blick in die 1970er-Jahre erscheint wie die Rückschau in eine Zeit, in der die Welt noch einfacher war. Zumindest für die deutsche Parteienlandschaft stimmt das. Beispiel Bundestagswahl 1972: Die SPD erhielt 45,8 Prozent der Stimmen, die Union lag mit 44,9 Prozent knapp dahinter. Die FDP bekam 8,4 Prozent und bildete mit den Sozialdemokraten eine Regierung. Ach ja: Die Wahlbeteiligung betrug 91 Prozent und sonstige Parteien kamen auf 0,9 Prozent. Undenkbar wäre ein solches Ergebnis heute.
Die Grünen, die PDS und heute die Linke sowie die AfD haben den Volksparteien Stimmanteile abgenommen, weil sie Anliegen bestimmter Gruppen vertreten, die sich von Union und SPD nicht oder nur unzureichend vertreten fühlen. Eine Auffächerung des Parteienspektrums ist nicht an sich ein Alarmsignal. Die Entwicklung entspricht einem Trend zur Individualisierung einer Gesellschaft, die vielfältiger, offener und freier ist als vor 50 Jahren.
Anders als etwa in den USA ist die Demokratie in unserem Land an Koalitionsregierungen gewöhnt. Sowohl für Wähler als auch für die Politiker gehört es zur Normalität, dass Alleinregierungen die absolute Ausnahme sind. Das hat eine Kultur der politischen Kompromisse entstehen lassen. Die Bürgerinnen und Bürger haben zudem die Wahl zwischen verschiedenen Optionen und nicht nur zwischen zwei Parteien und ihren gesellschaftlichen Lagern, die sich wie in den Vereinigten Staaten zunehmend unversöhnlich gegenüberstehen.
Und doch gibt es Grund zur Sorge. Die Zahl der Nichtwähler hat zugenommen, auch der Anteil der Kleinstparteien ist stark gewachsen. Knapp neun Prozent der Wählerinnen und Wähler gaben bei der Bundestagswahl 2021 ihre Stimme an Mini-Parteien ohne Aussicht auf Gestaltung. Der Zersplitterung der Parteienlandschaft folgt die Schwierigkeit, arbeitsfähige Regierungsmehrheiten zu finden. Diese Entwicklung hat andere Länder in Europa schon lange erfasst, bei uns könnte sie sich ebenfalls verschärfen.
All das ist nicht nur eine Folge der gesellschaftlichen Individualisierung, sondern auch eines schwindenden Vertrauens in das Angebot der politischen Mitte in einer Zeit voller Unsicherheiten, in der wichtige Zukunftsfragen wie etwa der Umgang mit dem Klimawandel verhandelt und beantwortet werden müssen. Das zeigt sich aktuell besonders an der AfD. Die Partei kommt auf Rekordwerte in den Stimmungsbarometern, obwohl sie auf die Spaltung der Gesellschaft setzt und in einer sich rasant wandelnden Welt ein Verbleiben im Status quo verspricht. Populismus beantwortet keine Zukunftsfragen.
Der Trend zu den politischen Rändern lässt sich aber auch an Umfragen ablesen, die ein großes Potenzial für eine mögliche neue Partei der Linken-Politikerin Sahra Wagenknecht mit ihren linkspopulistischen Positionen ergeben. Also für das Projekt einer Politikerin, die schon einmal beim Versuch scheiterte, eine neue politische Bewegung aufzubauen. Und die in ihrer bisherigen Laufbahn mehr mit Talkshow-Auftritten und einträglichen Buchveröffentlichungen auf sich aufmerksam machte als mit Fleiß im Parlamentsbetrieb.
Für die Parteien der Mitte und ihr Personal ist all dies ein Warnsignal. Sie müssen Antworten auf die großen Zukunftsfragen geben, denen die Menschen vertrauen können: Ideen statt Zank. Aber auch die Wählerinnen und Wähler müssen sich fragen, ob sie mit einem Kreuz bei Protestparteien dazu beitragen, dass dieses Land in Zukunft besser dasteht.
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