Berlin (ots)
Lange Zeit galt Israel als einzige Demokratie im politisch höchst instabilen Nahen Osten. Es ging immer laut und streitlustig zu, aber der Rechtsstaat funktionierte. Dieser tadellose Ruf hat Risse bekommen – er ist sogar gefährdet.
Premierminister Benjamin Netanjahu hatte allen Ernstes vor, eine Justizreform in Form eines kalten Polit-Putsches durchzudrücken. Käme es dazu, würde der Oberste Gerichtshof – ein wesentlicher Anker der Gewaltenteilung – zu einer Statistenrolle degradiert. Das Parlament hätte jede Entscheidung der Obersten Richter mit einfacher Mehrheit aufheben können. Dies ist umso gravierender, als Israel keine Verfassung hat. Bei der Auslegung der Grundgesetze kam dem Obersten Gericht eine fundamentale Bedeutung zu.
Netanjahu hat schwere Fehler begangen. Zum einen setzte er sich dem Vorwurf aus, dass er die De-facto-Gleichschaltung der richterlichen mit der gesetzgebenden und regierenden Gewalt aus eigenem Interesse durchpeitschen wollte. Der Regierungschef ist wegen Betrugs, Untreue und Bestechlichkeit angeklagt. Bei einer amputierten obersten Rechtsprechung droht ihm weniger politische Gefahr.
Darüber hinaus verkalkulierte sich Netanjahu mit seiner Raumschiff-Politik: Er dachte, er könnte mit einer nach seinem Gusto durchdeklinierten Justizreform einschweben, diese der Bevölkerung als fertiges Ergebnis präsentieren und danach wieder zur Tagesordnung übergehen.
Dieser Ansatz ist krachend gescheitert. Der Ministerpräsident war so losgelöst von der Realität, dass er den breiten Widerstand in der Bevölkerung schlichtweg ignorierte. Nicht nur die Oppositionsparteien bliesen zum Sturm gegen das Vorhaben. Hunderttausende Menschen gingen immer wieder auf die Straße, Soldaten der Armee protestierten, die Gewerkschaften riefen zum Generalstreik auf. Verteidigungsminister Joav Galant wagte mit seinem Nein zur Justizreform sogar die offene Rebellion.
Selten hat ein Premier so am Volk vorbei regiert wie Netanjahu. Staatspräsident Jitzchak Herzog warnte schließlich vor einem „Bürgerkrieg“ – und bescheinigte dem Regierungschef mit seinem Betondenken praktisch Inkompetenz.
Netanjahu hätte mit einem frühzeitigen Aussetzen des umstrittenen Gesetzesprojekts Dampf aus der angespannten Lage nehmen können. Ein Signal nach dem Motto „Wir haben verstanden“ hätte den Konflikt nicht ausgeräumt, aber die Gemüter zumindest etwas beruhigt. Diesen Zeitpunkt hat der Ministerpräsident verpasst. Selbst nach der Ankündigung von Montagabend, die Reform zu verschieben, gilt: Seine Reputation ist massiv beschädigt. Angesichts der Unruhe im Land muss er sich einen gefährlichen Kontrollverlust ankreiden lassen.
Man kann sogar noch weitergehen: Der Chef der rechtesten Regierung in der Geschichte Israels ist nicht mehr Herr der Lage. Er ist zur Geisel einer Koalition geworden, an der auch ultraorthodoxe und erstmals auch rechtsextreme Parteien beteiligt sind. Zu letzteren zählt nicht nur Itamar Ben-Gvir, Minister für die Nationale Sicherheit. Auch Finanzminister Bezalel Smotrich gehört dazu. Dieser rief zu Gegenprotesten für die Justizreform auf und goss damit Öl ins Feuer.
Netanjahu kann die Polterer und Polarisierer in seinem Kabinett nicht mehr steuern. Das vergrößert die bereits tiefe innenpolitische Spaltung des Landes. Es steht zu befürchten, dass der Radikalkurs der Regierung den Konflikt mit Palästinensern im Westjordanland und im Gazastreifen verschärft.
Pressekontakt:
BERLINER MORGENPOST
Telefon: 030/887277 – 878
bmcvd@morgenpost.de
Original-Content von: BERLINER MORGENPOST, übermittelt durch news aktuell