Berlin (ots)
Noch riecht die neue Freiheit in der syrischen Hauptstadt faulig. Nach dem Kollaps des Regimes vor einer Woche stapelt sich der Abfall am Straßenrand. Die Bürger organisieren sich und säubern ihre Nachbarschaften, abgeholt wird der Müll aber nicht. Die neuen Machthaber müssen sich erst sortieren und die staatlichen Strukturen wieder festigen. Noch immer herrscht in Damaskus eine Mischung aus Erstaunen, Ungläubigkeit und Freude über das so plötzliche Ende der Gewaltherrschaft der Assads.
In den Foltergefängnissen suchen Menschen verzweifelt nach Lebenszeichen ihrer vermissten Lieben, Gerüchte über die Entdeckung von Massengräbern, in denen Zehntausende Regime-Opfer verscharrt worden sein sollen, machen die Runde. In den Prachtbauten der Diktatorenfamilien machen die Bürger von Damaskus Selfies. Selbst die Islamisten, die jetzt die Checkpoints besetzen und in der Stadt Patrouillen laufen, scheinen über ihren blitzartigen Sieg überrascht. Sie geben sich sanftmütig, sind höflich und freundlich, auch bei den Begegnungen mit Andersgläubigen.
„Wir wollen Syrien vereinigen und die Minderheiten schützen“, sagen sie in Gesprächen. Wie nachhaltig dieses Toleranzversprechen sein wird, muss die Zukunft zeigen. Die exklusive Zusammensetzung der Übergangsregierung nur mit islamistischen Männern der Haiat Tahrir al-Scham (HTS) aus Idlib schürt jedenfalls Misstrauen. Gleichzeitig ist nicht sicher, ob sich die Hoffnung auf Frieden nach beinahe 14 Jahren Krieg jetzt erfüllen wird.
Als Tausende nach den Freitagsgebeten auf dem zentralen Ommayad-Platz feiern, fordert ein Redner unter dem Jubel der Menge die „Befreiung“ von Raqqa und Hasaka, Städten, die derzeit von der säkularen und kurdisch dominierten Selbstverwaltung in Nordostsyrien kontrolliert wird. Die Türkei schürt im Norden mit ihren islamistischen Verbündeten der Syrischen Nationalarmee (SNA) den Konflikt mit der Selbstverwaltung, Manbidsch ist bereits erobert worden. Die SNA-Milizionäre werden für viele Gräueltaten und Vergehen gegen die Zivilbevölkerung verantwortlich gemacht.
Aktuell zieht Ankara auf türkischer Seite Truppen vor Kobane zusammen, jener Stadt, in der kurdische Kräfte dem „Islamischen Staat“ (IS) seine erste große Niederlage zufügten. Und neben der HTS und der SNA gibt es noch Dutzende weitere islamistische Milizen, darunter extremistische wie der „IS“, der noch immer Tausende Kämpfer in seinen Reihen haben soll. Um Frieden zu erreichen, müssen die neuen Herrscher alles unternehmen, um die tiefen Gräben einzuebnen, die die vergangenen Jahre in die syrische Gesellschaft gerissen haben.
Der Versöhnungsprozess wird eine Aufgabe von Generationen werden. Gleiches gilt für den Wiederaufbau des zerstörten Landes. Bei beiden Aufgaben sollte die Internationale Gemeinschaft Unterstützung leisten, aber die Hilfe mit Auflagen verknüpfen. Frauen und Männer, Alawiten, Christen, Drusen, Sunniten und Schiiten, Araber und Kurden müssen im neuen Syrien einen gleichberechtigten Platz finden. Zugleich müssen die Nato-Staaten der Türkei deutlich zu verstehen geben, dass sie ihre Interventionen in Nordsyrien unverzüglich beenden muss. Israels Luftangriffe folgen – auch wenn sie mit dem Völkerrecht schwer vereinbar sind – einer anderen Logik als die Attacken Ankaras. Sie sollen verhindern, dass unberechenbare Islamisten in den Besitz schwerer Waffen und Raketen gelangen. Sicherheitspolitisch ist das nachvollziehbar.
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