Regensburg (ots)
Letztes Mittel: Impfpflicht
Angesichts dramatisch steigender Infektionen darf die Diskussion kein Tabu mehr sein. Leitartikel von Reinhard Zweigler
Das I-Wort wird in diesen Tagen, da die Corona-Infektionen mit der hochansteckenden Delta-Variante nahezu an jedem Tag neue Rekordwerte erreichen, ungeniert in den Mund genommen. Nicht nur von Markus Söder oder seinem baden-württembergischen Amtskollegen Winfried Kretschmann, sondern quer durch fast alle Bundestagsparteien. Nun ja, von Liberalen eher weniger, von den Corona-Verniedlichern der AfD schon gar nicht. „Impfpflicht“ lautet das gefährliche Wort. Die einen sprechen es aus wie Igittigitt, wie kann man nur. Andere – inzwischen eine Mehrheit der Deutschen – betrachten sie als letztes Mittel gegen die Pandemie, die derzeit das Land in den Würgegriff genommen hat.
Für Durch-und-durch-Liberale sträuben sich schon beim Begriff Pflicht die Nackenhaare. Wie kann der Staat überhaupt seine Bürgerinnen und Bürger zu irgendetwas verpflichten? Dabei wird schlicht vergessen, dass der Staat den Menschen durchaus verschiedene Pflichten auferlegen kann. Wozu? Na, damit das Zusammenleben funktionieren kann. Es gab bekanntlich einmal eine Wehrpflicht, die allerdings derzeit ausgesetzt ist. Doch wohl niemand bezweifelt heute ernsthaft Sinn und Nutzen der allgemeinen Schulpflicht oder der Meldepflicht. Und jeder, der mit einem Kraftfahrzeug am Straßenverkehr teilnimmt, kennt die damit verbundene Haftpflicht, die man Versicherungen überträgt, damit im Falle eines Falles verursachter Schaden auch beglichen werden kann.
Als vor viereinhalb Jahrzehnten hierzulande die Gurtpflicht im Auto eingeführt wurde, gab es teils wütende Proteste von Autofahrern, die allen Ernstes um ihre Freiheit beim Fahren fürchteten. Das ist längst vergessen. Heute halten sich vermutlich 99,9 Prozent der Fahrer und Fahrerinnen an diese gesetzlich vorgeschriebene Pflicht. Sich anzuschnallen, hilft Menschenleben retten und schwerere Verletzungen bei Unfällen zu vermeiden.
Kritiker mögen einwenden, dass die Gurtpflicht wohl kaum mit einer Pflicht zum Impfen auf eine Stufe gestellt werden kann. Klar, der Pieks in den Oberarm stellt einen Eingriff in den jeweils eigenen Körper dar, dessen Unversehrtheit sogar Verfassungsrang genießt. Stimmt, ist aber nur die halbe Wahrheit. Auch die Bundesrepublik kennt in diesem, wenn man so will ganz intimen persönlich-medizinischen Bereich, Pflichten. Gegen Pocken wurde bis 1976 auf der Grundlage einer Pflicht vorbeugend geimpft. Bayern hatte übrigens 1807 als erstes Land die Impfpflicht gegen die „Blattern“ eingeführt. Manche werden sich noch an die Kampagne zur Schluckimpfung gegen die Kinderlähmung erinnern: Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam.
Dass jetzt die Debatte um eine allgemeine Impfpflicht gegen ebenfalls grausam-tückische Corona-Infektionen rasant an Fahrt aufnimmt, kommt nicht von ungefähr. „Nur“ etwa zwei Drittel der Menschen haben bislang einen Impfschutz erhalten, auch wenn die Spritzen nicht einhundertprozentig vor Ansteckung schützen. Das sind – obwohl es jeden Tag mehr werden – zu wenige. Länder wie Portugal und Israel, wo viel mehr Menschen geimpft sind, zeigen, dass neue Wellen dadurch verhindert, zumindest abgeflacht werden können, wenn die Impfraten in Richtung 80 und 90 Prozent gehen. In Österreich bewirkte bereits die Ankündigung einer allgemeinen Impfpflicht, dass sich viele Menschen die Spritze setzen lassen. Es gilt allerdings die Einschränkung: Mit einer allgemeinen Impfpflicht könnte die jetzige vierte Welle nicht gestoppt werden können. Doch als Ultima Ratio, als letztes Mittel, um der Corona-Pandemie langfristig entgegenwirken zu können, sollte sie nun ernsthaft und offen diskutiert – und auch entschieden werden. Die künftige Bundes-Ampel steht in dieser Hinsicht in der Verantwortung.
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