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Zum Absehen von der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG“kein Ausweisungsinteresse besteht“
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1. Die im Rahmen der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG vorzunehmende Abwägung bestehender Ausweisungsinteressen mit widerstreitenden Bleibeinteressen hat sich – um eine insoweit nicht gebotene inzidente umfassende Prüfung einer hypothetischen Ausweisung zu vermeiden – auf ohne Weiteres erkennbare Gesichtspunkte zu beschränken.
2. Stehen schwerwiegenden Ausweisungsinteressen im Sinne des § 54 Abs. 2 AufenthG erkennbar vom Gesetzgeber als besonders schwerwiegend eingeordnete Bleibeinteressen im Sinne des § 55 Abs. 1 AufenthG gegenüber, so ist im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG grundsätzlich vom Bestehen einer atypischen Fallkonstellation auszugehen, die es bereits auf Tatbestandsseite gebietet, vom Vorliegen der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abzusehen.
OVG Lüneburg 13. Senat,
Beschluss vom
17.05.2022, 13 ME 113/22, ECLI:DE:OVGNI:2022:0517.13ME113.22.00
§ 28 Abs 1 S 1 Nr 3 AufenthG, § 28 Abs 2 S 1 AufenthG, § 5 Abs 1 Nr 2 AufenthG, § 146 Abs 4 VwGO, § 80 Abs 5 VwGO
Verfahrensgang
vorgehend VG Braunschweig, 11. März 2022, Az: 5 B 235/21, Beschluss
Tenor
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Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ablehnende Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig – Einzelrichterin der 5. Kammer – vom 11. März 2022 geändert.
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Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers (VG Braunschweig, 5 A 84/21) gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 9. Februar 2021 wird angeordnet.
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Die Antragsgegnerin trägt die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen.
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Der Wert des Streitgegenstandes wird für das Beschwerdeverfahren auf 2.500 EUR festgesetzt.
Gründe
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I.
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Die zulässige Beschwerde des Antragstellers gegen den die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ablehnenden Beschluss des Verwaltungsgerichts Braunschweig – Einzelrichterin der 5. Kammer – vom 11. März 2022 hat auch in der Sache Erfolg.
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1. Das Verwaltungsgericht hat den sinngemäß gestellten Antrag, die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers (VG Braunschweig, 5 A 84/21) gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 9. Februar 2021 verfügte Versagung der Verlängerung der ihm nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG erteilten Aufenthaltserlaubnis zu Unrecht abgelehnt. Bei Anlegung des in Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen und auch ausreichenden summarischen Prüfungsmaßstabs erweist sich die Ablehnung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis im Bescheid der Antragsgegnerin vom 9. Februar 2021 voraussichtlich als rechtswidrig.
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Die Antragsgegnerin hat die Versagung der Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis allein mit dem Bestehen eines Ausweisungsinteresses und damit dem Fehlen der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG begründet.
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Für das Vorliegen eines Ausweisungsinteresses nach § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG kommt es nicht darauf an, ob der Ausländer tatsächlich ausgewiesen werden könnte. Vielmehr reicht es aus, dass ein Ausweisungsinteresse gleichsam abstrakt – d.h. nach seinen tatbestandlichen Voraussetzungen – vorliegt, wie es insbesondere im Katalog des § 54 AufenthG normiert ist. Der Begriff des Ausweisungsinteresses verweist auf das Ausweisungsrecht und greift die in § 53 Abs. 1, § 54 AufenthG gewählte und anhand von Beispielen erläuterte Begriffsbildung auf. Diese Vorschriften regeln die Aufenthaltsbeendigung bei Vorliegen eines öffentlichen Ausweisungsinteresses. Umgekehrt setzt die Begründung eines rechtmäßigen Aufenthalts durch Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG in der Regel voraus, dass kein Ausweisungsinteresse besteht. § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG knüpfte in seiner bis zur Neuregelung durch das Gesetz zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung vom 27. Juli 2015 (BGBl. I S. 1386) geltenden Fassung an die damalige Terminologie des Ausweisungsrechts an und setzte in der Regel voraus, dass kein „Ausweisungsgrund“ im Sinne der §§ 53 ff. AufenthG a.F. vorlag. Die geänderte Fassung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG stellt nach den Gesetzesmaterialien lediglich eine Folgeänderung zur Neuordnung des Ausweisungsrechts in den §§ 53 ff. AufenthG dar (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, BT-Drs. 18/4097, S. 35). Daher ist die zu § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG a.F. und inhaltlich entsprechenden Vorläufervorschriften ergangene Rechtsprechung auf § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG n.F. übertragbar. Danach kam es für das Vorliegen eines Ausweisungsgrundes nicht darauf an, ob der Ausländer tatsächlich ausgewiesen werden könnte. Eine Abwägung mit den privaten Bleibeinteressen erfolgt – sofern sie nicht durch § 10 Abs. 3 AufenthG ausgeschlossen ist – erst im Rahmen der Frage, ob eine Abweichung vom Regelfall im Sinne des § 5 Abs. 1 AufenthG vorliegt, oder im Rahmen einer – wie hier in § 27 Abs. 3 Satz 2 AufenthG – spezialgesetzlich vorgesehenen Ermessensentscheidung (vgl. BVerwG, Urt. v. 12.7.2018 – BVerwG 1 C 16.17 -, juris Rn.15). Die Prüfung einer atypischen Fallkonstellation auf der Tatbestandsseite ist dabei zuerst und unabhängig von der nachfolgenden Prüfung eines Abweichungsermessens auf der Rechtsfolgenseite vorzunehmen (vgl. Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 27 AufenthG, Rn. 102 ff. m.w.N.; a.A. noch Niedersächsisches OVG, Urt. v. 27.4.2006 – 5 LC 110/05 -, juris Rn. 50). Dabei hat sich die Abwägung bestehender Ausweisungsinteressen mit widerstreitenden Bleibeinteressen – um eine nicht gebotene inzidente umfassende Prüfung einer hypothetischen Ausweisung zu vermeiden – auf ohne Weiteres erkennbare Gesichtspunkte zu beschränken.
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Unter Beachtung dieser Vorgaben besteht vorliegend eine atypische Fallkonstellation. Die Antragsgegnerin geht aufgrund der fortgesetzten Straffälligkeit des Antragstellers zutreffend vom Bestehen schwerwiegender Ausweisungsinteressen nach § 54 Abs. 2 Nr. 3 und Nr. 9 AufenthG aus. Diesen Ausweisungsinteressen stehen jedoch besonders schwerwiegende Bleibeinteressen des Antragstellers nach § 55 Abs. 1 Nr. 4 AufenthG entgegen. Der Antragsteller übt die Personensorge für seine minderjährigen deutschen Kinder Adam (geb. am 23.2…..) und Elyas (geb. am 20.4…..) derzeit unstreitig aktiv aus. Aus diesem Grunde hat die Antragsgegnerin ausweislich des angefochtenen Ablehnungsbescheids vom 9. Februar 2021 auch von einer Ausweisung des Antragstellers abgesehen. Stehen aber schwerwiegenden Ausweisungsinteressen im Sinne des § 54 Abs. 2 AufenthG erkennbar vom Gesetzgeber als besonders schwerwiegend eingeordnete Bleibeinteressen im Sinne des § 55 Abs. 1 AufenthG gegenüber, so ist im Rahmen des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG grundsätzlich vom Bestehen einer atypischen Fallkonstellation auszugehen, die es bereits auf Tatbestandsseite gebietet, vom Vorliegen der Regelerteilungsvoraussetzung des § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG abzusehen. Damit steht hier das Ausweisungsinteresse der Verlängerung des Aufenthaltstitels nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG voraussichtlich nicht entgegen.
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Dem kann im vorliegenden Fall auch nicht entgegengehalten werden, der Aufenthalt des Antragstellers könne durch die Erteilung von Duldungen tatsächlich sichergestellt werden. Dies widerspräche dem vom Gesetzgeber mit den Regelungen des Aufenthaltsgesetzes verfolgten Ziel, sog. „Kettenduldungen“, also einen auf absehbare Zeit nicht durch Abschiebung zu beendenden Aufenthalt im Bundesgebiet fortwährend nur durch einander wiederholende Aussetzungen der Abschiebung zu regeln, grundsätzlich zu vermeiden (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 27.6.2006 – BVerwG 1 C 14.05 -, BVerwGE 126, 192, 199 – juris Rn. 19; Senatsbeschl. v. 11.1.2019 – 13 ME 220/18 -, juris Rn. 30; Gesetzentwurf der Bundesregierung v. 7.2.2003, Entwurf eines Zuwanderungsgesetzes, BT-Drs. 15/420, S. 64). Der Erreichung dieses Ziels, das allerdings weder absolute Geltung beansprucht noch mit den Regelungen des Aufenthaltsgesetzes abschließend umgesetzt ist, das aber bei der Normauslegung und der Ausfüllung von Wertungs- und Ermessensspielräumen durchaus zu berücksichtigen ist, steht es entgegen, den Aufenthalt eines Ausländers, bei dem schwerwiegende Ausweisungsinteressen und besonders schwerwiegende Bleibeinteressen einander gegenüberstehen, auf lange Sicht lediglich zu dulden und damit die Ausnahme zur Regel zu machen.
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2. Eines Eingehens auf einen etwaigen Anspruch des Antragstellers auf die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis bedarf es nicht, da die Vollziehbarkeit der Ausreisepflicht bereits durch die Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die im Bescheid der Antragsgegnerin vom 9. Februar 2021 verfügte Versagung der Verlängerung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 28 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG suspendiert ist. Damit hat der Antragsteller sein im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erreichbares Rechtschutzziel bereits durchgesetzt.
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Lediglich zur Vermeidung weiterer Rechtstreitigkeiten weist der Senat darauf hin, dass das Fehlen eines Ausweisungsinteresses im Rahmen des § 28 Abs. 2 Satz 1 AufenthG – abweichend von § 5 Abs. 1 Nr. 2 AufenthG – verbindliche Tatbestands- und nicht nur Regelerteilungsvoraussetzung für die Erteilung einer Niederlassungserlaubnis nach dieser Vorschrift ist. Auch die Möglichkeit eines Absehens von dieser Voraussetzung nach Ermessen ist nicht vorgesehen (vgl. BVerwG, Urt. v. 16.8.2011 – BVerwG 1 C 12.10 -, juris Rn. 13; Dienelt, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, § 28 AufenthG, Rn. 44).
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II.
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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
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III.
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Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 63 Abs. 2 Satz 1, 47 Abs. 1 Satz 1, 53 Abs. 2 Nr. 2, 52 Abs. 1 GKG sowie Nrn. 8.1 und 1.5 Satz 1 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit (NordÖR 2014, 11).
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).
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