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Berufungszulassungsantrag im Asylprozess; Überschwemmungen im Sudan im Jahr 2020
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1. Die Entscheidungserheblichkeit und Klärungsbedürftigkeit einer Tatsachenfrage, deren grundsätzliche Bedeutung geltend gemacht wird, kann bei einer nach der Verkündung des verwaltungsgerichtlichen Urteils eingetretenen grundlegenden Veränderung der Verhältnisse entfallen.
2. Die Frage, ob ein alleinstehender, gesunder, junger Mann aufgrund der derzeitigen bzw. seit ca. August 2020 auftretenden Fluten und Überschwemmungen nicht in der Lage ist, im Sudan ein Existenzminimum zu erwirtschaften , ist zum heutigen Zeitpunkt nicht mehr entscheidungserheblich und klärungsbedürftig, da sie auf die Verhältnisse während der Regenzeit im Jahr 2020 abzielt.
3. Ob wegen der schlechten sozio-ökonomischen und humanitären Bedingungen im Herkunftsland ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK festzustellen ist, hängt von einer Würdigung aller Umstände des konkreten Einzelfalls ab und entzieht sich daher einer allgemeinen, fallübergreifenden Klärung.
OVG Lüneburg 4. Senat,
Beschluss vom
28.01.2022, 4 LA 250/20, ECLI:DE:OVGNI:2022:0128.4LA250.20.00
§ 78 Abs 3 Nr 1 AsylVfG 1992, § 60 Abs 5 AufenthG, Art 3 MRK
Verfahrensgang
vorgehend VG Hannover, 29. Oktober 2020, Az: 5 A 11015/17, Urteil
Tenor
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Der Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover – Einzelrichter der 5. Kammer – vom 29. Oktober 2020 wird abgelehnt.
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Die Beklagte trägt die außergerichtlichen Kosten des Zulassungsverfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Gründe
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Der auf eine grundsätzliche Bedeutung der Rechtssache (§ 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG) gestützte Antrag der Beklagten auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
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Eine Rechtssache ist nur dann im Sinne des § 78 Abs. 3 Nr. 1 AsylG grundsätzlich bedeutsam, wenn sie eine höchstrichterlich oder obergerichtlich bislang noch nicht beantwortete Frage von allgemeiner Bedeutung aufwirft, die im Rechtsmittelverfahren entscheidungserheblich ist und im Interesse der Einheitlichkeit der Rechtsprechung oder der Weiterentwicklung des Rechts einer fallübergreifenden Klärung in einem Berufungsverfahren bedarf (Senatsbeschl. v. 20.8.2015 – 4 LA 107/15 – u.v. 21.7.2015 – 4 LA 224/15 -; GK-AsylG, § 78 Rn. 88 ff. m.w.N.; Hailbronner, Ausländerrecht, Kommentar, § 78 AsylG Rn. 15 ff. m.w.N.). Die Darlegung der grundsätzlichen Bedeutung einer Rechtssache im Sinne des § 78 Abs. 4 Satz 4 AsylG erfordert daher, dass eine derartige Frage konkret bezeichnet und darüber hinaus erläutert worden ist, warum sie im angestrebten Berufungsverfahren entscheidungserheblich und klärungsbedürftig wäre und aus welchen Gründen ihre Beantwortung über den konkreten Einzelfall hinaus dazu beitrüge, die Rechtsfortbildung zu fördern oder die Rechtseinheit zu wahren. Des Weiteren muss substantiiert dargetan werden, warum die aufgeworfene Frage im Berufungsverfahren anders als im angefochtenen Urteil zu entscheiden sein könnte und – im Falle einer Tatsachenfrage – welche neueren Erkenntnismittel eine anderslautende Entscheidung nahelegen (Senatsbeschl. v. 20.8.2015 – 4 LA 107/15 – u.v. 21.7.2015 – 4 LA 224/15-; GK-AsylG, § 78 Rn. 591 ff. m.w.N.). Im Rahmen dieser Darlegung ist eine konkrete und ihm Einzelnen begründete Auseinandersetzung mit der verwaltungsgerichtlichen Entscheidung geboten (Senatsbeschl. v. 9.8.2018 – 4 LA 140/18 – m.w.N.).
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Die Beklagte möchte geklärt wissen, „ob ein alleinstehender, gesunder, junger Mann aufgrund der derzeitigen bzw. seit ca. August 2020 auftretenden Fluten und Überschwemmungen nicht in der Lage ist, im Sudan ein Existenzminimum zu erwirtschaften?“ Wie sich aus dem weiteren Vortrag der Beklagten entnehmen lässt, zielt die Frage darauf ab, ob allen Asylbewerbern aus dem Sudan derzeit aufgrund der Überschwemmungen ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK zuzuerkennen ist; das Verwaltungsgericht habe seine Entscheidung ausschließlich darauf gestützt, dass es niemandem aufgrund der derzeitigen Überschwemmungen im Sudan möglich sei, ein Existenzminimum zu erwirtschaften.
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Die Frage ist indessen, so wie sie von der Beklagten formuliert und näher begründet worden ist, offensichtlich nicht mehr entscheidungserheblich und klärungsbedürftig und daher nicht von grundsätzlicher Bedeutung.
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Maßgeblich für das Vorliegen der grundsätzlichen Bedeutung ist nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG der Zeitpunkt der Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts (vgl. GK-AsylG, § 78 Rn. 689). Die Entscheidungserheblichkeit und Klärungsbedürftigkeit einer Tatsachenfrage kann daher bei einer nach der Verkündung des verwaltungsgerichtlichen Urteils eingetretenen grundlegenden Veränderung der Verhältnisse entfallen. Deshalb sind Tatsachenfragen zu durch Zeitablauf überholten tatsächlichen Verhältnissen grundsätzlich nicht mehr im Interesse der Rechtsprechungseinheit klärungsbedürftig (GK-AsylG, § 78 Rn. 145 m.w.N.; zum Ganzen: Bay. VGH, Beschl. v. 22.1.2018 – 20 ZB 17.30667 -, juris Rn. 7).
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Das ist auch hier der Fall. Denn die vom Verwaltungsgericht in den Entscheidungsgründen anhand von seinerzeit aktuellen Erkenntnismitteln beschriebenen ungewöhnlich schweren Überschwemmungen im Sudan – nach den Tatsachenfeststellungen des Verwaltungsgerichts die schwersten seit über 30 Jahren, von denen sämtliche der 18 sudanesischen Bundesstaaten betroffen waren – haben sich während der Regenzeit im Spätsommer und Herbst 2020 ereignet. Dieses extreme Wetterereignis liegt also etwa eineinhalb Jahre zurück. Da der Senat im Rahmen seiner Entscheidung gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG auf die heute bestehende Sach- und Rechtslage abzustellen hat, kommt es auf die wirtschaftliche und humanitäre Lage im Sudan während der Regenzeit im Jahr 2020 somit ersichtlich nicht mehr an.
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Die Berufung ist im Übrigen auch dann nicht zuzulassen, wenn man die von der Beklagten aufgeworfene Frage so versteht, dass sie geklärt wissen will, ob ein alleinstehender, gesunder, junger Mann aufgrund der heute im Sudan bestehenden Verhältnisse in der Lage ist, dort ein Existenzminimum zu erwirtschaften. Denn diese Tatsachenfrage kann nicht fallübergreifend geklärt, sondern nur anhand der Gegebenheiten des konkreten Einzelfalls beantwortet werden.
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Ausgangspunkt der Beantwortung dieser Frage ist der rechtliche Maßstab, der für die Feststellung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK wegen der schlechten sozio-ökonomischen und humanitären Bedingungen im Herkunftsland gilt. Er ist in der vorhandenen höchstgerichtlichen Rechtsprechung bereits hinreichend geklärt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 13.2.2019 – 1 B 2.19 -, juris Rn. 6 m.w.N.).
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Bei Anwendung dieses rechtlichen Prüfungsmaßstabs auf den zu entscheidenden Fall hängt die Antwort auf die oben genannte Tatsachenfrage von einer Vielzahl individueller Umstände und Faktoren wie etwa dem Alter, dem Geschlecht, dem Gesundheitszustand, der Volkszugehörigkeit, der Ausbildung, dem Vermögen und familiären oder freundschaftlichen Verbindungen ab (vgl. OVG Saarland, Beschl. v. 15.7.2021 -2 A 96/21 -, juris Rn. 10). Daher bedarf es für die Beantwortung der Tatsachenfrage einer Würdigung aller Umstände des konkreten Einzelfalls, so dass sie sich einer allgemeinen, fallübergreifenden Klärung entzieht (vgl. BVerwG, Beschl. v. 8.8.2018 – 1 B 25.18 -, Rn. 11; OVG Saarland, a.a.O., juris Rn. 10; Nds. OVG, Beschl. v. 31.8.2021 – 9 LA 169/20 -, V.n.b.). Das gilt auch für den Fall des Klägers.
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Der Senat sieht es zwar nicht als gänzlich ausgeschlossen an, dass Wetterereignisse wie etwa Überschwemmungen in extremen Ausnahmefällen dazu führen können, dass buchstäblich das gesamte Herkunftsland „unter Wasser steht“ und infolge dessen Wirtschaftsketten und Versorgungsinfrastruktur dort vorübergehend gänzlich zusammenbrechen, so dass der gesamten Bevölkerung eine Sicherung der Existenz vor Ort während der Dauer des Extremwetterereignisses (und ggf. auch noch während einer sich daran anschließenden Phase der Wiederherrichtung der grundlegenden Versorgungsinfrastruktur) nicht mehr oder kaum noch möglich ist. In einem derartigen extremen Ausnahmefall mag die Frage, ob ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 i.V.m. Art. 3 EMRK besteht, verallgemeinerungsfähig und daher einer fallübergreifenden Klärung zugänglich sein.
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Ob derartige Verhältnisse im Sudan während der (und ggf. auch noch unmittelbar nach den) Überschwemmungen im Jahr 2020 bestanden haben, ist aber, wie oben bereits ausgeführt, wegen § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG für die Entscheidung über den Zulassungsantrag nicht ausschlaggebend. Der Senat weist in diesem Zusammenhang allerdings darauf hin, dass das Verwaltungsgericht in den Entscheidungsgründen einen Lagebericht des United Nations Office for the Coordination of Humanitarian Affairs (OCHA) vom 10. September 2020 mit Update vom 24. September 2020 zitiert, wonach infolge der Flutereignisse etwa 10 Millionen Personen nun Unterstützung bräuchten. Bei einer Gesamtbevölkerung des Sudan von geschätzt ca. 43,8 Millionen Menschen (vgl. den Wikipedia-Artikel „Sudan“) lässt diese Angabe es nicht ohne weiteres als naheliegend erscheinen, dass von den Überschwemmungen im Jahr 2020 seinerzeit sämtliche Einwohner des Sudans in einer Weise betroffen waren, die einer Verletzung von Art. 3 EMRK gleichkommt.
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Im Übrigen sind dem Senat weder aktuelle Erkenntnismittel bekannt, die über einen durch die starken Überschwemmungen verursachten, auch längerfristig bis heute anhaltenden vollständigen Zusammenbruch der Wirtschaftsketten und Versorgungsinfrastruktur im Sudan berichten, noch verwaltungsgerichtliche Entscheidungen aus jüngster Zeit, die von einer derartigen Lage im Sudan ausgehen. So hat das Verwaltungsgericht in dem in den Entscheidungsgründen ausführlich zitierten Urteil vom 30. September 2020 angenommen, dass der dortige Kläger nach dem Ende der gegenwärtigen Flutkatastrophe voraussichtlich einer zumutbaren Berufstätigkeit nachgehen und hierdurch seinen Lebensunterhalt erwirtschaften könne (vgl. VG Hannover, Urt. v. 30.9.2020 – 5 A 2783/17 -, juris Rn. 63; ebenso VG Leipzig, Urt. v. 28.4.2021 – 7 K 153/18.A -, juris S. 21 f.). Andere dem Senat bekannte aktuelle verwaltungsgerichtliche Entscheidungen, die das Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 GG für das Herkunftsland Sudan bejaht haben, beruhen jeweils auch auf einer Würdigung der individuellen Umstände des Einzelfalls (vgl. VG Lüneburg, Urt. v. 22.02.2021 – 6 A 7/20 – u. v. 10.6.2021 – 6 A 350/19 -; VG Stade, Urt. v. 25.5.2021 – 4 A 2640/17 -; sämtlich in juris).
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO und § 83b AsylG.
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Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).
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