Rechtsprechung | Nds. Landesjustizportal – Dokument: VG Braunschweig 3. Kammer | 3 B 59/04 | Beschluss | Minderheiten aus dem Kosovo

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VG Braunschweig 3. Kammer,
Beschluss vom
18.05.2004, 3 B 59/04, ECLI:DE:VGBRAUN:2004:0518.3B59.04.0A

§ 2 AsylbLG

Tenor

Das Verfahren betr. den Antragsteller zu 3) wird eingestellt.

Im Übrigen wird der Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung verpflichtet, den Antragstellern zu 1), 2), 4), 5) und 6) ab dem 01.05.2004 vorläufig Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in entsprechender Anwendung des BSHG zu gewähren.

Die Antragsteller tragen 1/6, der Antragsgegner 5/6 der Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

1

Soweit der Antragsteller zu 3), D. B., den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit Schriftsatz seines Prozessbevollmächtigten vom 16.04.2004 zurückgenommen hat, ist das Verfahren gemäß § 92 Abs. 1 VwGO analog einzustellen.

2

Im Übrigen ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.

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Gemäß § 123 Abs. 1 Satz 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) kann eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis erlassen werden, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen nötig erscheint (Regelungsanordnung). Da nach Sinn und Zweck des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens die vorläufige Regelung grundsätzlich die Entscheidung in der Hauptsache nicht vorwegnehmen darf, kann eine Verpflichtung zur Zahlung und Übernahme von Geldleistungen, wie sie im vorliegenden Fall begehrt wird, im einstweiligen Anordnungsverfahren in der Regel nur ausgesprochen werden, wenn die tatsächlichen Voraussetzungen für einen entsprechenden Anspruch (Anordnungsanspruch) glaubhaft gemacht sind und weiterhin glaubhaft gemacht wird, dass die begehrte Hilfe aus existenzsichernden Gründen so dringend notwendig ist, dass der Anspruch mit gerichtlicher Hilfe sofort befriedigt werden muss und es deshalb nicht zumutbar ist, den Ausgang eines Hauptsacheverfahrens abzuwarten (Anordnungsgrund).

4

Ein Anordnungsgrund, d.h. die Erforderlichkeit einer vorläufigen Regelung zur Abwehr wesentlicher Nachteile (§ 123 Abs. 1 VwGO), ergibt sich hier für die laufenden Leistungen ab Beginn des Monats der gerichtlichen Entscheidung aus der Art der begehrten Leistungen. Zwar erhalten die Antragsteller derzeit Leistungen nach den §§ 3 ff. AsylbLG, wobei gegen die Regelung der §§ 1, 3, 6 und 9 AsylbLG keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen, insbesondere mit diesen Leistungen die Mindestvoraussetzung eines menschenwürdigen Lebens gewährleistet sind (vgl. OVG Lüneburg, B. v. 27.06.1997 – 12 L 5709/96 – in Nds. Rpfl. 1997, 269; BVerwG, B. v. 29.09.1998 – 5 B 82.97 – in NVwZ Beil. 1999, 669). Gleichwohl besteht regelmäßig ein Anordnungsgrund, wenn – wie hier – ein Anspruch auf (höhere) Leistungen bzw. Geldleistungen in Höhe der Hilfe zum Lebensunterhalt nach dem Bundessozialhilfegesetz glaubhaft gemacht ist (vgl. OVG Lüneburg, B. v. 27.11.1986 – 4 OVG B 153/86 – und OVG Lüneburg, B. v. 14.09.2000 – 4 M 3027/00 – zum AsylbLG). Dem Hilfebedürftigen ist es nach dieser ständigen Rechtsprechung, der sich die Kammer auch für das AsylbLG angeschlossen hat (vgl. B. v. 15.04.1997 – 3 B 3073/97 -), nicht zuzumuten, sich bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache mit geringeren oder gekürzten oder andersartigen Leistungen zur Sicherung des laufenden Lebensunterhaltes zufriedenzugeben.

5

Die Antragsteller haben auch einen Anordnungsanspruch dahingehend glaubhaft gemacht, dass ihnen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG abweichend von der Regelung der §§ 3-7 AsylbLG Leistungen in entsprechender Anwendung des BSHG zu gewähren sind. Nach § 2 Abs. 1 AsylbLG ist das BSHG auf Leistungsberechtigte entsprechend anzuwenden, die über die Dauer von insgesamt 36 Monaten, frühestens beginnend am 01. Juni 1997, Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten haben, wenn die Ausreise nicht erfolgen kann und aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, weil humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe oder das öffentliche Interesse entgegenstehen.

6

Zwischen den Beteiligten ist nicht umstritten, dass die Antragsteller zu den Leistungsberechtigten nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 bzw. Nr. 5 AsylbLG gehören und dass sie die Wartezeit des § 2 Abs. 1 AsylbLG von 36 Monaten erfüllen.

7

Die weiteren Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 AsylbLG sind ebenfalls gegeben.

8

Die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 AsylbLG müssen, damit die Privilegierung des Leistungsberechtigten eintreten kann, dergestalt vorliegen, dass weder die „freiwillige“ Ausreise noch aufenthaltsbeendende Maßnahmen erfolgen können, weil humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe oder das öffentliche Interesse entgegenstehen (vgl. OVG Lüneburg, B. v. 17.01.2001 – 4 M 4422/00 -). Die selbständige Bedeutung sowohl der freiwilligen Ausreisemöglichkeit als auch der Möglichkeit von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen hat die erkennende Kammer bereits für § 2 Abs. 1 Nr. 2 AsylbLG a. F. angenommen (vgl. B. v. 05.05.1997 – 3 B 3131/97 -, ebenso Nds. OVG, B. v. 27.01.1997 – 12 M 264/97 – und VGH Baden-Württemberg, B. v. 22.11.1995 – 6 S 1347/95 – in FEVS 46, 410, 411; a. A. u. a. Nds. OVG, B. v. 20.01.1997 – 4 M 7062/96 -).

9

Sowohl einer freiwilligen Ausreise der Antragsteller als auch aufenthaltsbeendenden Maßnahmen stehen derzeit humanitäre Gründe entgegen. Insoweit braucht im vorliegenden Verfahren nicht entschieden zu werden, ob es sich bei den Antragstellern, wie von ihnen behauptet, um Angehörige der „Roma“ oder entsprechend der seitens des Antragsgegners eingeholten Auskunft des Kosovo Information Projects (KIP) vom 12.09.2001 um Angehörige der sog. „Ägypter“ handelt. Denn im hier maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung finden in Anbetracht der aktuellen Situation im Kosovo für sämtliche Minderheiten keine Rückführungen in den Kosovo statt. Dies ergibt sich aus den Erlassen des Niedersächsischen Ministeriums für Inneres und Sport vom 31.03.2004 und 07.04.2004. Damit sind die auf der Grundlage des zwischen dem Bundesminister des Innern der Bundesrepublik Deutschland und dem Sonderbeauftragten des Generalsekretärs der Vereinten Nationen vereinbarten Memorandum of Understanding vom 31.03.2003 und den dazu ergangenen ministeriellen Erlassen erfolgten Abschiebungen von Minderheiten der Ashkali und „Ägypter“ in das Kosovo bis auf weiteres gestoppt worden. Hintergrund ist die Tatsache, dass es am 17. und 18.03.2004 in verschiedenen Orten des Kosovo zu erheblichen Unruhen gekommen ist und daher aus Sicherheitsgründen weder Abschiebungen von Minderheitenangehörigen als auch von ethnischen Albanern in das Kosovo durchgeführt werden. Insoweit handelt es sich um humanitäre Gründe im Sinne von § 2 Abs. 1 AsylbLG, die aufenthaltsbeendenden Maßnahmen derzeit entgegenstehen.

10

Neben der Voraussetzung, dass aufenthaltsbeendende Maßnahmen aus den humanitären Gründen des letzten Halbsatzes des § 2 Abs. 1 AsylbLG derzeit zu Lasten der Antragsteller nicht möglich sind, ist auch die weitere Voraussetzung, dass eine freiwillige Ausreise derzeit nicht zuzumuten ist, gegeben. Denn auch insoweit bestehen Ausreisehindernisse aus den im 2. Halbs. des § 2 Abs. 1 AsylbLG genannten Gründen. Obwohl grammatikalisch nicht eindeutig ist, ob sich der letzte Halbsatz des § 2 Abs. 1 AsylbLG auch auf die Möglichkeit der freiwilligen Ausreise bezieht, entspricht ein solcher Bezug doch dem Sinn und Zweck der gesetzlichen Regelung (vgl. Nds. OVG, B. v. 17.01.2001, a. a. O.). Danach soll die leistungsrechtliche Angleichung an das höhere Niveau der Sozialhilfe zwar die Ausnahme bilden, bei Vorliegen bestimmter humanitärer, rechtlicher oder persönlicher Voraussetzungen aber eine einheitliche Behandlung der Leistungsberechtigten erfolgen – unabhängig davon, ob lediglich aufenthaltsbeendende Maßnahmen oder aber auch die freiwillige Ausreisemöglichkeit aus diesen Gründen eingeschränkt sind. Eine freiwillige Ausreise im Sinne des § 2 Abs. 1 AsylbLG ist aber dann nicht möglich, wenn sie für den Ausländer unzumutbar ist (OVG Lüneburg, B. vom 06.10.2000 – 4 M 3278/00 -). Auch eine freiwillige Ausreise ist den Antragstellern im vorliegenden Verfahren nicht zumutbar; denn die genannten Erlasse des Niedersächsischen MI haben zum Hintergrund, dass Angehörigen von ethnischen Minderheiten eine Rückkehr aus humanitären Gründen nicht zugemutet werden soll. Diese Gründe gelten auch für eine freiwillige Ausreise.

11

Ergänzend ist anzumerken, dass die vorliegenden Erkenntnisse zu einer Erkrankung des Antragstellers zu 1) allein nicht zu einer leistungsrechtlichen Besserstellung der Antragsteller führen könnten. Nach im einstweiligen Rechtsschutzverfahren lediglich zulässiger und möglicher summarischer Prüfung wurde ein Abschiebungshindernis dadurch nicht begründet, da die Erkrankungen nach den vorliegenden Erkenntnissen im Kosovo behandelbar sind. Wie sich aus der Stellungnahme des Amtsarztes des Antragsgegners vom 26.03.2004 auf der Grundlage der eingereichten ärztlichen Atteste ergibt, besteht beim Antragsteller zu 1) insgesamt eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung. Das insoweit u. a. berücksichtigte Attest des Facharztes für innere Medizin und Pneumologie Dr. J. vom 03.06.2003 diagnostiziert ein intrinsisches Asthma bronchiale. Insoweit ergibt sich aus den Gutachten des Deutschen Verbindungsbüros Kosovo vom 09.02.2004, 05.04.2004, 03.03.2004 sowie dem Gutachten der Deutschen Botschaft vom 16.10.2002, dass nicht kindliches Asthma bronchiale im Kosovo behandelbar ist und entsprechende Medikamente zur Verfügung stehen.

12

Dementsprechend ist der Antragsgegner im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, den Antragstellern zu 1), 2), 4), 5) und 6), ab dem 01.05.2004 vorläufig Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in entsprechender Anwendung des BSHG zu gewähren.

13

Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 155 Abs. 2, 188 Satz 2 VwGO.

 


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Quelle : Niedersachsen.de

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