Rechtsprechung | Nds. Landesjustizportal – Dokument: VG Hannover 12. Kammer | 12 B 6475/21 | Beschluss | Dublin-Verfahren: Erfolgreicher Eilantrag gegen eine Abschiebungsanordnung nach Litauen

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Es spricht jedoch einiges dafür, dass die Antragsgegnerin gemäß Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO die Zuständigkeitsprüfung dennoch hätte fortsetzen müssen, um einen anderen zuständigen Mitgliedsstaat zu bestimmen. Danach setzt der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat die Prüfung der in Kapitel III vorgesehenen Kriterien fort, um festzustellen, ob ein anderer Mitgliedstaat als zuständig bestimmt werden kann, wenn es sich als unmöglich erweist, einen Antragsteller an den zunächst als zuständig bestimmten Mitgliedstaat zu überstellen, da es wesentliche Gründe für die Annahme gibt, dass das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen für Antragsteller in diesem Mitgliedstaat systemische Schwachstellen aufweisen, die eine Gefahr einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne des Artikels 4 der EU-Grundrechtecharta (GRC) mit sich bringen. Nach dem Prinzip der normativen Vergewisserung (vgl. BVerfG, Urt. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1938/93, 2 BvR 2315/93 –, juris Rn. 181 ff.) bzw. dem Grundsatz des gegenseitigen Vertrauens (vgl. EuGH, Urt. v. 19.3.2019 – C-163/17 („Jawo“) –, juris Rn. 80 f.; Urt. v. 19.3.2019 – C-297/17 u.a. („Ibrahim u.a.“) –, juris Rn. 84.; Urt. v. 21.12.2011 – C- 411/10, C-493/10 –, juris Rn. 79 ff.) gilt zwar die Vermutung, dass in den Mitgliedstaaten die Behandlung von Asylbewerbern mit den Erfordernissen der EU-Grundrechte-Charta und der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) in Einklang steht. Das Prinzip des gegenseitigen Vertrauens begründet jedoch nur eine Vermutung (vgl. EuGH, Urt. v. 19.3.2019 – C- 163/17 –, juris Rn. 83 f.), welche durch den substantiierten Vortrag von Umständen widerlegt werden kann, die eine besondere Schwelle der Erheblichkeit erreichen. Die Anforderungen hieran sind allerdings hoch. Die Vermutung ist insbesondere nicht schon bei einzelnen Regelverstößen widerlegt (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 –, juris). Um das Prinzip gegenseitigen Vertrauens entkräften zu können, muss vielmehr ernsthaft zu befürchten sein, dass dem Asylbewerber aufgrund genereller Mängel im Asylsystem des eigentlich zuständigen Mitgliedstaats mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC droht. Der maßgebliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit muss sich auf der Basis einer Gesamtwürdigung sämtlicher Umstände ergeben und darf sich nicht nur auf einzelne Mängel des Systems beziehen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 19.3.2014 – 10 B 6.14 –, juris Rn. 6; EuGH, Urt. v. 21.12.2011 – C- 411/10, C-493/10 -, juris Rn. 80; VGH BaWü, Urt. v. 16.4.2014 – A 11 S 1721/13, – juris Rn. 41). Diese Grundsätze konkretisierend hat der Europäische Gerichtshof in seiner „Jawo“-Entscheidung ausgeführt, dass Schwachstellen im Asylsystem nur dann als Verstoß gegen Art. 4 der EU-Grundrechte-Charta bzw. Art. 3 EMRK zu werten sind, wenn sie eine besonders hohe Schwelle der Erheblichkeit erreichen, die von sämtlichen Umständen des Falles abhängt. Die hohe Schwelle der Erheblichkeit kann nach dem Europäischen Gerichtshof dann erreicht sein, wenn die Gleichgültigkeit der Behörden eines Mitgliedstaats zur Folge hätte, dass eine vollständig von öffentlicher Unterstützung abhängige Person sich unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befände, die es ihr nicht erlaubte, ihre elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen, wie insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und die ihre physische oder psychische Gesundheit beeinträchtigte oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzte, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre. Diese Schwelle ist selbst in durch große Armut oder eine starke Verschlechterung der Lebensverhältnisse der betreffenden Person gekennzeichneten Situationen nicht erreicht, sofern sie nicht mit extremer materieller Not verbunden sind, aufgrund derer sich diese Person in einer solch schwerwiegenden Lage befindet, dass sie einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung gleichgestellt werden kann (vgl. dazu insgesamt EuGH, Urt. v. 19.3.2019 – C-163/17 – juris Rn. 91 ff.). Eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC kann auch in einer Inhaftierung eines Asylbewerbers liegen. Art. 3 EMRK verpflichtet die Mitgliedstaaten unter anderem, sich zu vergewissern, dass die Bedingungen der Haft mit der Achtung der Menschenwürde vereinbar sind und dass Art und Methode des Vollzugs der Maßnahme den Gefangenen nicht Leid oder Härten unterwirft, die das mit einer Haft unvermeidbar verbundene Maß an Leiden übersteigt, und dass seine Gesundheit und sein Wohlbefinden unter Berücksichtigung der praktischen Bedürfnisse der Haft angemessen sichergestellt sind. Die Beurteilung des Vorliegens eines Mindestmaßes an Schwere ist der Natur der Sache nach relativ. Sie hängt von allen Umständen des Falles ab, wie der Dauer der Behandlung, ihren physischen und mentalen Auswirkungen und in einigen Fällen dem Geschlecht, Alter und Gesundheitszustand des Opfers. Rufen die Haftbedingungen in ihrer Gesamtheit Gefühle der Willkür und die damit oft verbundenen Gefühle der Unterlegenheit und der Angst sowie die tiefgreifenden Wirkungen auf die Würde einer Person hervor, verstoßen sie gegen Art. 3 EMRK (vgl. EGMR, Urt. v. 21.01.2011 – 30696/09 – M.S. S./Belgien u. Griechenland, juris Rn. 216, 219, 221, 233). Für die Frage, ob die angegriffenen Haftbedingungen als erniedrigend im Sinne von Art. 3 EMRK anzusehen sind, fällt der extreme Mangel an persönlichem Raum stark ins Gewicht. Daneben sind andere Aspekte der physischen Haftbedingungen – etwa der Zugang zu Bewegung im Freien, natürliches Licht oder Luft, die Verfügbarkeit von Belüftung und die Einhaltung grundlegender sanitärer und hygienischer Anforderungen – relevant (vgl. EGMR, Urt. v. 21.01.2011 – 30696/09 – M.S. S./Belgien u. Griechenland, Rn. 222; Urt. v. 10.01.2012 – 42525/07 und 60800/08 – Ananyev u.a./Russland, Rn. 143 ff., Urt. v. 20.10.2016 – 7334/13 – Mursić/Kroatien, Rn. 103 ff., und vom 11.03.2021 – 6865/19 – Feilazoo/Malta, Rn. 82 f.).

Quelle : Niedersachsen.de

Bilder: Titel Symbolbilder Niedersachsen by Pixabay.com / Niedersachsen.de

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