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Keine offensichtliche Unbegründetheit bei unterbliebener Sachverhaltsaufklärung
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1. Im Falle des Unterlassens einer greifbar gebotenen Aufklärung kann von einer ausreichenden Klärung des Sachverhalts iSv § 24 Abs. 1 AsylVfG nicht gesprochen werden.
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2. Eine Erkenntnislücke von über 11 Jahren im Zeitpunkt der Entscheidung über den Asylantrag eines Kleinkindes hinsichtlich Schicksal und Entwicklung seines Vaters gebietet die Anhörung des Vaters.
VG Lüneburg 1. Kammer,
Beschluss vom
19.06.2003, 1 B 24/03, ECLI:DE:VGLUENE:2003:0619.1B24.03.0A
§ 24 Abs 1 AsylVfG, § 36 Abs 4 AsylVfG, § 28 VwVfG, § 80 Abs 4 S 3 VwGO, Art 16a Abs 4 GG
Gründe
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Für den am 7.09.2002 in Buxtehude geborenen Antragsteller (Religion: unbekannt) wurde am 8. Oktober 2002 ein Asylantrag gestellt, der nach Beiziehung der Akten der Mutter sowie jener des Vaters ohne Anhörung seiner Eltern durch den angefochtenen Bescheid vom 25. April 2003 (zugestellt am 29.4.2003) als offensichtlich unbegründet abgelehnt wurde. Zur Begründung hieß es, für den Antragsteller seien keine eigenen individuellen Gründe geltend gemacht worden und auch aus den Akten seiner Eltern (Az. 1089 758 und 2743 573) ergäben sich keine Anhaltspunkte für eine Gefährdung im Falle der Rückkehr nach Vietnam. Er wurde aufgefordert, das Bundesgebiet binnen 1 Woche zu verlassen; bei Nichteinhaltung dieser Frist wurde ihm die Abschiebung nach Vietnam angedroht. Dagegen hat der Antragsteller am 6. Mai 2003 bei der Kammer Klage erhoben (1 A 96/03) und zugleich den vorliegenden Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes gestellt.
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Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage 1 A 96/03 hat Erfolg.
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1. Im Verfahren des § 8o Abs. 5 VwGO ist in den Fällen des § 80 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, in denen dem Rechtsschutzantrag keine behördliche Vollzugsanordnung gem. § 8o Abs. 2 Nr. 4 VwGO vorausgeht, weil nach der Einschätzung des Gesetzgebers auf dem Sachgebiet generell ein öffentliches Interesse an der sofortigen Vollziehung besteht (vgl. § 75 AsylVfG), analog § 8o Abs. 4 Satz 3 VwGO zu entscheiden (Finkelnburg/Jank, NJW-Schriften Bd. 12, 4. Auflage 1998, Rdn. 849 ff./851; Schoch/Schmidt-Aßmann-Pietzner, VwVG-Kommentar, Bd I / Std: Jan. 2000, § 80 Rdn. 252 m.w.N.) – es sei denn, es besteht eine gesetzliche Spezialregelung. Eine solche liegt mit § 36 Abs. 4 AsylVfG vor, ohne dass damit allerdings der o.a. Maßstab des § 80 Abs. 4 S. 3 VwGO verändert worden wäre. Auch hiernach kommt es auf ernstliche Zweifel an, die dann anzunehmen sind, wenn „Unklarheiten, Unsicherheiten und vor allem Unentschiedenheit bei der Einschätzung der Sach- und Rechtslage“ bestehen (Schoch u.a., aaO., Rdn. 194), so dass Erfolg wie Misserfolg des Hauptsacheverfahrens gleichermaßen wahrscheinlich sind.
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2. Mit Blick auf § 36 Abs. 4 AsylVfG, Art. 16 a Abs. 4 GG und Art. 19 Abs. 4 GG konzentriert sich in Verfahren der hier vorliegenden Art – bei Abweisung des Asylantrags im angefochtenen Bescheid als offensichtlich unbegründet – die gerichtliche Prüfung allerdings auf die Frage, ob der Asylantrag zu Recht bereits als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden ist. Denn in einem solchen Falle, in dem die Versagung vorläufigen Rechtsschutzes die Vollziehbarkeit der angedrohten Abschiebung zur Folge hat, sind ganz besondere Anforderungen sowohl an die Sachverhaltsermittlung als aber auch an die Begründung der maßgeblichen Entscheidung zu stellen (BVerfG / 1. Kammer d. 2. Senats, Beschl. v. 21.7.2000 – 2 BvR 1429/98 – , veröff. NVwZ-Beilage I 12/2000, S. 145; BVerfG DVBl. 1993, 1003). Es sind mithin hohe Anforderungen zu erfüllen, die nur dann gegeben sind, wenn die Aussichtslosigkeit der Klage „auf der Hand liegt“ und „sich geradezu aufdrängt“. Nur im Falle der uneingeschränkten Richtigkeit speziell des Offensichtlichkeitsurteils überwiegt nämlich das von der Antragsgegnerin in Anspruch genommene Abschiebungsinteresse ein individuelles Bleibeinteresse (Marx, AsylVfG, 4. Auflage 1999, § 36 Rdn. 58 m.w.N.). An der Richtigkeit dieses Urteils fehlt es jedoch stets schon dann, wenn der Tatsachenvortrag die „nicht entfernt liegende Möglichkeit ergibt, daß politische Verfolgung droht“ (Marx, aaO, Rdn. 63) – mag der Asylantrag sich später im Verfahren der Hauptsache im Ergebnis auch als unbegründet herausstellen (Marx, aaO, Rdn. 71).
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3. Eine solche uneingeschränkte Richtigkeit des Offensichtlichkeitsurteils ist hier nicht gegeben. Irreparable Maßnahmen – wie die angedrohte Abschiebung des Antragstellers mit ihren fast unabänderlichen Folgen – dürfen damit zunächst nicht ergriffen werden.
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3.1. An der Offensichtlichkeit fehlt es hier zunächst deshalb, weil gem. § 24 Abs. 1 Satz 4 AsylVfG von der Anhörung nur dann abgesehen werden darf, wenn der Sachverhalt auf Grund des Inhalts der Verfahrensakten der Eltern ausreichend geklärt ist. Die diesbezügliche Anhörung des Vaters des Antragstellers hat am 28. Januar 1991 stattgefunden, in der vorgetragen worden war, wegen Eintretens für Menschenrechte in einem kommunistischen Regime habe der Vater des Antragstellers in der CSFR Fluchtversuche unternommen, um nicht nach Vietnam zurückgeschickt zu werden – in ein Land ohne Freiheit, Menschenwürde und Gerechtigkeit. Aufgrund des extrem langen Zeitraums von über 11 Jahren, der zwischen dieser Anhörung und dem Asylantrag des Antragstellers vom 8. Oktober 2002 liegt, kann nicht davon ausgegangen werden, dass bei dieser Lage der Dinge die Aufklärungspflichten des Bundesamtes erfüllt und der Sachverhalt schon als ausreichend geklärt betrachtet werden kann. Denn die beigezogenen Akten des Vaters des Antragstellers geben für den aufgezeigten Zeitraum nichts mehr her. Aus ihnen ergibt sich nur, dass die damalige Klage nach den Erkenntnissen zu Beginn der 90er-Jahre durch Urteil des VG Lüneburg v. 5.8.1993 – 1 A 707/91 – abgewiesen und der Antrag auf Zulassung der Berufung abgelehnt worden ist ( Beschl. des Nds.OVG v. 10.12.1993 – 9 L 4488/93 -). Der neuerdings (am 13.5.2003) gestellte Asylfolgeantrag des Vaters, über den vom Bundesamt noch nicht entschieden ist, indiziert jedoch deutlich, dass asylerhebliche Gründe gegeben sein könnten, Aufklärungsbedarf also bestand und besteht.
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Der Begründungshinweis im angefochtenen Bescheid (S. 3 Mitte), aus den Verfahren der Eltern ergäben sich keine Anhaltspunkte für eine Gefährdung des Antragstellers, auf die entsprechenden Verfahren werde verwiesen, greift zu kurz, da für den Vater des Antragstellers ein Zeitraum von 11 Jahren ungeklärt und durch die Akten nicht erfasst ist. Insoweit reicht es nicht aus, dass die Klage der Mutter durch Urteil des VG Oldenburg v. 9.4.2003 – 6 A 1245/02 – als offensichtlich unbegründet abgewiesen worden ist. Von einer ausreichenden Klärung der gesamten Sachlage, vor allem hinsichtlich des Vaters des Antragstellers, kann damit nicht gesprochen werden.
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3.2. Weiterhin ist zu allen entscheidungserheblichen Tatsachen rechtliches Gehör zu gewähren (§ 28 VwVfG). Eine solche Gelegenheit zur Stellungnahme (vgl. Renner, Ausländerrecht, 7. Auflage, § 24 AsylVfG Rdn. 10 m.w.N.) vor Erlass des Bescheides vom 25. April 2003 hat hier nicht stattgefunden, u.zw. trotz der für den Vater des Antragstellers und seine Entwicklung doch sehr greifbaren Lücke von rd. 11 Jahren. Der Vater des Antragstellers ist nicht angehört worden, ihm eine Gelegenheit zur Stellungnahme nicht mehr gegeben worden. Von einer Gewährung rechtlichen Gehörs kann somit keine Rede sein. Diese Fehlerhaftigkeit des Antragsverfahrens führt hier zugleich dazu, dass es an der Richtigkeit des Offensichtlichkeitsurteils fehlt (s.o.; vgl. insoweit auch VG Frankfurt/M., InfAuslR 2003, S. 119).
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3.3. Soweit im angefochtenen Bescheid dann die beachtliche Wahrscheinlichkeit von Gefährdungen des Antragstellers im Falle der Rückkehr nach Vietnam verneint wird, ist diese Bewertung im Rahmen des vorliegenden (Eil-)Verfahrens nicht so sicher und plausibel, dass sie auch ein Offensichtlichkeitsurteil (s.o.) eindeutig stützen könnte.
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Denn im Hinblick auf § 51 Abs. 1 AuslG und die dafür erforderliche Prognoseentscheidung kommt es – bei Identität nur des abstrakten (theoretischen) Maßstabes von Art. 16 a Abs. 1 GG und § 51 Abs. 1 AuslG – in erster Linie und vor allem auf die tatsächlichen Veränderungen in Vietnam selbst bis zum Entscheidungszeitpunkt des Bundesamtes an, die im angefochtenen Bescheid hinsichtlich der letzten 2 Jahre jedoch nicht angesprochen oder erwähnt worden sind. Diese unzweifelhaft vorliegenden Veränderungen haben jedoch maßgeblichen Einfluss auf die Prognose einer „Bedrohung“ iSv § 51 Abs. 1 AuslG für den Entscheidungszeitpunkt April 2003. Da zudem die Anhörung des Vaters hier schon über 11 Jahre zurückliegt, kann von einer aktuellen, alle z.Z. maßgeblichen Umstände einbeziehenden Entscheidung des Bundesamtes nicht mehr gesprochen werden.
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Im Übrigen ist das Verfolgungs- und Bestrafungsrisiko in Vietnam gem. dem geänderten VietStGB inzwischen schwer einzuschätzen, weil die Reaktionsweise vietnamesischer Behörden „ständigen, zum Teil sehr irrationalen Veränderungen unterworfen“ ist (so schon die Stellungn. von Dr. G. Will, Hamburg, vom 14.9.2000, S. 3). Politische Opposition wird in Vietnam nicht toleriert, abweichende Meinungen werden erstickt, Dissidenten sind Repressionen seitens der vietnamesischen Regierung ausgesetzt (so der im Bescheid unerwähnt gebliebene Lagebericht des AA v. 1.04.2003). Daher werden inzwischen – im Frühjahr 2003 – auch alle elektronischen sowie alle Printmedien durch die Regierung überwacht – das Internet eingeschlossen (Lagebericht aaO.). Versuche, mit Flugblättern oder Zeitungen eine Resonanz in der Bevölkerung zu erzeugen, werden „strikt“ unterbunden. Gegner des Sozialismus werden inhaftiert oder bestraft, u.a. gem. der Verordnung über Administrativhaft v. 14.04.1997. Angehörige der protestantisch-freikirchlich orientierten Minderheiten des vietnamesischen Berglandes, die im Jahre 2001 nach niedergeschlagenen Aufständen in großer Zahl nach Kambodscha geflohen und dort vom UNHCR betreut worden waren, erhielten von den USA politisches Asyl (Ausreise in die USA im Frühjahr 2002). Nach der Einschätzung der IGFM (Pressemitteilung v. 18.10. 2001) „entpuppt sich Vietnam als ein ?rechtsbeugender Staat?“. Diese auch durch den neuesten Lagebericht des Ausw. Amtes v. 1.4.2003 gestützte Einschätzung ist im angefochtenen Bescheid ungewürdigt geblieben, die erforderliche Prognose gem. § 51 Abs. 1 AuslG nicht auf eine entsprechende aktuelle Tatsachenbasis gestellt worden.
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4. Im übrigen stehen der Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes nicht ausnahmsweise besonders gewichtige Gründe entgegen, die es erlaubten, schon vor Abschluß des Verfahrens der Hauptsache die vollendete Tatsachen schaffende Abschiebung nach Vietnam durchzuführen, die hier angedroht worden ist (Pkt. 4 des Bescheides). Denn der Rechtsschutzanspruch eines Antragstellers aus Art. 19 Abs. 4 GG ist um so stärker, je gewichtiger die auferlegte Belastung ist und je mehr die Verwaltungsmaßnahme unabänderlich ist (BVerfGE 35, 382 / 4o2; BVerfGE, NVwZ 1985, 4o9; BVerfG (3. K. des 2. Senats) NVwZ-Beilage 1996, 19 m.w.N.). Deshalb ist ein Antrag nur bei unumstößlicher Richtigkeit (BVerfG, InfAuslR 1995, 19), die regelmäßig erst im Hauptsacheverfahren zu erlangen ist, abweisbar:
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Droht … dem Ast. bei Versagung des einstweiligen Rechtsschutzes eine erhebliche, über Randbereiche hinausgehende Verletzung seiner Grundrechte, die durch eine der Klage stattgebende Entscheidung nicht mehr beseitigt werden kann, so ist – … – einstweiliger Rechtsschutz zu gewähren, es sei denn, daß ausnahmsweise überwiegende, besonders gewichtige Gründe entgegenstehen (so 3. Ka. des 2. Senats des BVerfG, Beschl. v. 27.1o.1995, NVwZ-Beilage 3/1996, S. 19 m.w.N.)
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An solcher unumstößlichen Richtigkeit im Sinne von Offensichtlichkeit fehlt es hier jedoch.
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Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO iVm § 83 b Abs. 1 AsylVfG.
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Dieser Beschluß ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.
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