Rechtsprechung | Nds. Landesjustizportal – Dokument: OVG Lüneburg 14. Senat | 14 LC 4/22 | Urteil

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Dies zugrunde gelegt, richtet sich der bestimmungsgemäße Gebrauch – auch unter Berücksichtigung der Verkehrsauffassung – nach der Packungsbeilage des Klägers. Insbesondere liegen keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür vor, dass sich nach der allgemeinen Verkehrsauffassung ein bestimmter Fehl- oder Missbrauch so nachhaltig festgesetzt hat, dass er als bestimmungsgemäßer Gebrauch anzusehen wäre.Keine andere Einschätzung rechtfertigt der Hinweis der Beklagten auf das Urteil des BGH vom 27. November 2019 (3 StR 233/19, veröffentlicht in juris). Der BGH hat in diesem Urteil im Rahmen eines strafrechtlichen Verfahrens im Zusammenhang mit Doping-Missbrauchstatbeständen (nur) für die für Dopingzwecke im Sport hergestellten Präparate festgestellt, dass der bestimmungsgemäße Gebrauch sich nach dem üblichen Gebrauch der Konsumenten richte (BGH, Urt. v. 27.11.2019 – 3 StR 233/19 -, juris Rn. 36). Da diese Präparate (ausschließlich) hochdosiert zum Muskelaufbau verwendet würden, sei der bestimmungsgemäße Gebrauch der Präparate mit dem auf diesem Markt vorgesehenen Missbrauch gleichzusetzen (vgl. BGH, Urt. v. 19.9.17 – 1 StR 72/17 -, juris Rn. 17). Ein damit vergleichbarer Fall ist für die streitgegenständlichen Präparate jedoch nicht anzunehmen. Das gilt auch unter Berücksichtigung des Vorbringens der Beklagten, die ärztlichen Rezepte, auf deren Vorlage der Kläger die streitgegenständlichen Präparate abgebe, zeugten von einem beliebigen Verordnungsverhalten der Therapeuten und begründeten den Schluss, der bestimmungsgemäße Gebrauch liege nicht nur bei „3×1 Kps. tägl.“. Die von der Beklagten vorgelegten Rezepte (Bl. 754 ff. d. GA Bd. V), denen keine oder höhere Dosierungsangaben zu entnehmen sind, rechtfertigen hier (noch) nicht die Annahme einer nachhaltigen Festsetzung eines bestimmten Fehl- und Missbrauchs wie im oben genannten Dopingfall. In diesem Zusammenhang ist hervorzuheben, dass zwar grundsätzlich derjenige, der ein Arzneimittel in den Verkehr bringt – hier der Kläger als Apotheker -, dafür verantwortlich ist, dass das Arzneimittel bei bestimmungsgemäßem Gebrauch keine (unvertretbaren) schädlichen Wirkungen hat. Weichen aber der Arzt oder der wirksam aufgeklärte Konsument von dem festgelegten bestimmungsgemäßen Gebrauch ab, so fallen die schädlichen Wirkungen zuvorderst in ihren Verantwortungsbereich (vgl. Freund, in MüKo zum StGB, 4. Aufl. 2022, § 5 AMG Rn. 7). Es fällt mithin in aller Regel nicht in den Verantwortungsbereich des Apothekers, sondern in den des behandelnden Arztes, wenn dieser eine höhere Dosis verschreibt, als der bestimmungsgemäße Gebrauch vorgibt. Es ist auch nicht unüblich, dass die Dosierung bestimmter Arzneimittel auf den Patienten angepasst wird und diese Dosis gegebenenfalls von der in der Packungsbeilage angegebenen Dosis abweicht. Da die ärztliche Therapie in der Verantwortung des Arztes erfolgt, kann der Apotheker die Erforderlichkeit, Zweckmäßigkeit oder Vertretbarkeit einer Arzneimitteltherapie im konkreten Einzelfall auch nicht beurteilen (vgl. Hofmann, in Kügel/Müller/Hofmann, AMG, 3. Aufl. 2022, § 5 Rn. 10). Der bloße Umstand einer abweichenden ärztlichen Verordnungspraxis allein begründet auch deshalb keinen besonders gelagerten Ausnahmefall, in denen sich ein Fehlgebrauch in der Praxis so stark verbreitet hat, dass er einem in bestimmten Verkehrskreisen üblichen Gebrauch entspricht.Etwas anderes gilt auch nicht mit Blick auf das Verordnungsverhalten der beiden Ärzte H. und I.. Diese Ärzte empfehlen bzw. verschreiben nach dem Vorbringen der Beklagten willkürlich und pauschal – ohne vorheriges Arzt-Patientengespräch – mehr als die Einnahme von drei Kapseln täglich. Zwar hat der BGH in einer Entscheidung vom 11. August 1999 (2 StR 44/99, juris) im Rahmen eines strafrechtlichen Verfahrens im Zusammenhang mit Schlankheitspillen den bestimmungsgemäßen Gebrauch nach Maßgabe der von zwei Ärzten ausgestellten Atteste festgelegt. Diese beiden Ärzte hatten massenweise und undifferenziert Kapseln an abnehmwillige Patienten (auch Normalgewichtige und Kinder) ohne zureichende Untersuchung und Überwachung und unter Vernachlässigung von Kontraindikationen verschrieben. Anders als im vorliegenden Fall bezog sich die von den angeklagten Apothekern getroffene Gebrauchsbestimmung jedoch speziell auf die Einnahme der Kapseln durch Patienten nur dieser zwei Ärzte. Die mit Wissen und Wollen der angeklagten Apotheker geübte Verordnungspraxis wurde daher als Teil der Gebrauchsbestimmung gesehen (vgl. zum Ganzen: BGH, Beschl. v. 11.8.1999 – 2 StR 44/99 -, juris Rn. 4). Dies ist auf den vorliegenden Fall nicht übertragbar. Der Kläger gibt zwar auch an die Patienten der Ärzte H. und I. die streitgegenständlichen Präparate auf Vorlage eines Rezepts ab, allerdings – und das ist der ausschlaggebende Unterschied – nicht ausschließlich an diese. Er hat zahlreiche weitere Abnehmer, die Rezepte von Ärzten vorlegen, denen ein massenweises und undifferenziertes Verschreiben der streitgegenständlichen Präparate nicht unterstellt werden kann und auch nicht von der Beklagten unterstellt wird. Die Verschreibungspraxis der beiden Ärzte (H. und I.) ist daher keine Verordnungspraxis, die als Teil der Gebrauchsbestimmung anzusehen ist.Schließlich liegt hier auch keine Konstellation vor, in der aufgrund der Komplexität der Angaben zu Anwendungsgebieten und Gegenanzeigen, die ein pharmazeutischer Unternehmer macht, für den Anwender ein bestimmungsgemäßer Gebrauch kaum zu ermitteln und damit das Auftreten von Fehlern geradezu unvermeidbar ist (vgl. dazu Fuhrmann, in Kloesel/Cyran, AMG, 135 AL 2019, § 5 Anm. 21). In der Packungsbeilage des Klägers wird der bestimmungsgemäße Gebrauch klar definiert, auf Wechselwirkungen hingewiesen und festgestellt, dass es keine Gegenanzeigen gibt. Dass einige Ärzte eine höhere Dosis als die in der Packungsbeilage genannte Höchstdosis verordnen, führt jedenfalls nicht zu der Annahme, dass der bestimmungsgemäße Gebrauch kaum zu ermitteln ist.Eine von der Rechtskraftbindung des früheren Urteils befreiende entscheidungserhebliche Änderung der Sachlage liegt nicht vor. Dies wäre dann der Fall, wenn nach dem für das rechtskräftige Urteil maßgeblichen Zeitpunkt neue für die Streitentscheidung erhebliche Tatsachen eingetreten sind, die sich so wesentlich von den früher maßgeblichen Umständen unterscheiden, dass auch unter Berücksichtigung des Zwecks der Rechtskraft eines Urteils eine erneute Sachentscheidung durch die Verwaltung oder ein Gericht gerechtfertigt ist (vgl. OVG LSA, Beschl. v. 8.6.2021 – 2 L 127/19 -, juris Rn. 42; BVerwG, Urt. v. 18.9.2001 – 1 C 7.01 -, juris Rn. 11). Nicht ausreichend ist, wenn nur Erkenntnislücken, die bereits berücksichtigt wurden, geschlossen werden (vgl. Kilian/Hissnauer, in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 121 Rn. 116), sich nachträglich neue Erkenntnisse über zum maßgeblichen Zeitpunkt bereits vorhandene Tatsachen oder im rechtskräftigen Urteil nicht berücksichtigte Beweismittel finden, oder wenn der Beteiligte sein Vorbringen aufgrund neuer Beweismittel „besser“ beweisen kann. Die Beibringung dieser Beweismittel lässt die Rechtskraft grundsätzlich unberührt, sofern nicht der Betroffene erst nach Prozessende die Möglichkeit hatte, diese beizubringen (vgl. Kilian/Hissnauer, in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 121 Rn. 117; Wöckel, in Eyermann, VwGO, 16. Aufl. 2022, § 121 Rn. 47).Eine – von der Beklagten allein geltend gemachte – Gewinnung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse dürfte regelmäßig als Änderung der Sachlage zu werten sein (vgl. BVerwG, Urt. v. 4.12.2001 – 4 C 2.00 -, juris Rn. 22 zum Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG; Lindner, in BeckOK, VwGO, 62. Ed. 1.7.2022, § 121, Rn. 54). Damit wird der als objektiv angesehene Wissensstand im Nachhinein verändert (vgl. BVerwG, Urt. v. 4.12.2001 – 4 C 2.00 -, juris Rn. 22 zum Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG). Inwieweit die Gewinnung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse als Änderung der Sachlage zu werten ist, ist anhand des Einzelfalls zu ermitteln (vgl. Clausing/Kimmel, in Schoch/Schneider, VwGO, 42. EL Febr. 2022, § 121, Rn. 72).

Quelle : Niedersachsen.de

Bilder: Titel Symbolbilder Niedersachsen by Pixabay.com / Niedersachsen.de

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