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Einstufung eines Vollzeitpflegeverhältnisses; Höhe des monatlichen Pauschalbetrages
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1. Die beispielhafte Einordnung des Schädigungsbildes einer „Alkoholembryopathie“ – synonym: FAS(D) – als (bloßer) „Risikofaktor in der Vorgeschichte des Kindes“ in die Kategorie der sogenannten „sozialpädagogischen Vollzeitpflege“ in den vom Nds. Landesjugendamt veröffentlichten, zuletzt in 2016 aktualisierten „Nds. Empfehlungen zur Pflegekinderhilfe“ unterliegt erheblichen systematisch-methodischen aber auch fachlichen Bedenken.
2. Gibt sich ein örtlicher Jugendhilfeträger eigene Richtlinien u.a. zur Kategorisierung von Vollzeitpflegeverhältnissen nach den Bedarfslagen der Kinder, ist er bei der Einstufung eines bestimmten Vollzeitpflegeverhältnisses daran gebunden und sein Beurteilungsspielraum insoweit eingeschränkt.
3. Mit der Einstufung von Fällen, die den §§ 53, 54 SGB XII a.F. unterlagen, sowie von Kindern mit „wesentlicher seelischer Behinderung“ als typische Fälle einer Bedarfslage für eine sog. sonderpädagogische Vollzeitpflege knüpfen die „Nds. Empfehlungen zur Pflegekinderhilfe“ an die eingliederungshilferechtliche Begrifflichkeit der „Wesentlichkeit“ an. Ob in dem Sinne eine im Einzelfall vorliegende seelische Behinderung „wesentlich“ ist, unterliegt uneingeschränkt der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle und Beurteilung.
4. Eine grundsätzliche Zugrundelegung der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung bei Verpflichtungsklagen auf Gewährung von Jugendhilfeleistungen erscheint unter dem Blickwinkel des Art. 19 Abs. 4 GG als nicht gerechtfertigt, da sich dieses aus dem materiellen Jugendhilferecht nicht ableiten lässt.
VG Hannover 3. Kammer,
Urteil vom
07.09.2022, 3 A 2353/17, ECLI:DE:VGHANNO:2022:0907.3A2353.17.00
§ 27 SGB 8, § 33 SGB 8, § 53 SGB 12, § 99 SGB 9
Tenor
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Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 02.02.2017 verpflichtet, den Klägern für ihr Pflegekind D. rückwirkend für den Zeitraum ab dem Zeitpunkt des Eingangs des dahingehenden Antrags der Kläger vom 21.09.2016 beim Beklagten bis einschließlich 03.02.2022 Hilfe zur Erziehung gemäß den §§ 27, 33 SGB VIII in Form der sonderpädagogischen Vollzeitpflege zu gewähren.
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Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
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Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
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Dem Beklagten wird nachgelassen, eine Kostenvollstreckung seitens der Kläger mittels Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leisten.
Tatbestand
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Die Kläger begehren die rückwirkende Heraufstufung der von der Klägerin zu 2) geleisteten Vollzeitpflege ihres (früheren) Mündels D. von der sogenannten sozialpädagogischen in die sogenannte sonderpädagogische Vollzeitpflege.
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Der im Februar 2004 geborene D. ist leibliches Kind von jedenfalls seinerzeit drogenabhängigen Eltern. Die Kindesmutter hatte unstreitig auch während der Schwangerschaft verschiedene Suchtstoffe konsumiert. D. erlitt infolgedessen bereits vorgeburtlich eine hirnorganische Schädigung. Durchgängig diagnostiziert seit 2013 ist von der psychiatrischen Institutsambulanz der Tagesklinik E. insoweit (u.a.) eine fetale Alkohol-Spektrum-Störung (Q 86.0; FASD), wobei insbesondere der Ausprägungsgrad und die daraus resultierenden Auswirkungen im Einzelnen zwischen den Beteiligten streitig sind.
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Weiterhin wurden für D. im Juli 2013 in der Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in F. u.a. die Diagnose „Sonstige emotionale Störung des Kindesalters (ICD-10 F93.8)“ gestellt und kognitive Fähigkeiten im unteren durchschnittlichen Bereich (Gesamt-IQ: 87) ermittelt. Die Diagnose „Sonstige emotionale Störung des Kindesalters (ICD-10 F93.8)“ stellte auch die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin G. in einer vom Beklagten eingeholten fachlichen Stellungnahme gemäß § 35a SGB VIII vom 12.01.2017. Diese diagnostizierte zusätzlich eine isolierte Rechtschreibstörung (ICD-10 F81.1) und ermittelte für den Gesamt-IQ einen Wert von 93.
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Seit August 2013 erhält D. fortlaufend regelmäßig eine spezifische Krankengymnastik zur Verbesserung der Funktionalität seines zentralen Nervensystems (KG-ZNS).
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Seit September 2013 bezieht D. Leistungen aus der Pflegeversicherung. Nachdem seinerzeit seitens der Pflegeversicherung eine Eingruppierung in Pflegestufe 1 erfolgt war, ist D. seit der Umstellung der Leistungseinstufungen der Pflegeversicherung im Jahr 2017 in den Pflegegrad 3 eingruppiert.
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Mit Bescheid aus dem Dezember 2013 erkannte das Nds. Landesamt für Soziales, Jugend und Familie D. einen GdB von 70 mit den Merkmalen G (Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr auf Grund einer Störung der Orientierungsfähigkeit), B (Berechtigung zur kostenlosen Mitnahme einer Begleitung) und H (Hilflosigkeit) zu; im Februar 2015 wurde diese Anerkennung ergänzend rückwirkend zum 01.10.2005 ausgesprochen.
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D. wurde zunächst in zwei Waldorfschulen beschult, wo er nicht gut zurechtkam. Ab Januar 2014 besuchte er eine Förderschule für Lernen und Sprache, die er im Sommer 2021 mit dem Erwerb des Hauptschulabschlusses beendete. Seitdem absolviert er ein stundenreduziertes FSJ. Auf der Basis einer Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Agentur für Arbeit liegt aktuell eine Kostenzusage für eine Aufnahme H. in das Berufsbildungswerk I. ab April 2023 vor, wo zunächst eine dreimonatige Eignungsabklärung bezüglich der weiteren beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten vorgesehen ist.
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Seit Eintritt der Volljährigkeit steht D. für die Aufgabenbereiche Sorge für die Gesundheit, Vermögenssorge (mit Einwilligungsvorbehalt), Wohnungsangelegenheiten, Geltendmachung von Ansprüchen auf HLU, Rechts-/Antrags- und Behördenangelegenheiten) unter Betreuung der Kläger.
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Die Kläger haben D. bereits kurz nach seiner Geburt auf Vermittlung des Beklagten als Vollzeitpflegekind gemäß §§ 27, 33 SGB VIII zunächst im Rahmen einer „allgemeinen“ Vollzeitpflege in ihren Haushalt aufgenommen. Pflegeperson im Sinne des SGB VIII ist die Klägerin zu 2). Die Kläger wurden im Januar 2011 als Vormünder für D. bestellt. Im Juni 2011 stufte der seinerzeit (zwischenzeitlich) zuständige örtliche Jugendhilfeträger (LK J.) das Vollzeitpflegeverhältnis auf Antrag der Kläger als sog. „sozialpädagogische Vollzeitpflege (Pflegeform 2)“ ein. Nach dem (Rück-)Übergang der örtlichen Zuständigkeit nach dem SGB VIII auf den Beklagten bewilligte dieser den Klägern für D. mit Bescheid vom 19.06.2013 und nachfolgend fortlaufend bis zum Eintritt der Volljährigkeit Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege unter Übernahme der Einstufung als sozialpädagogische Vollzeitpflege. Seitdem zahlte der Beklagte an die Klägerin zu 2) als Pflegeperson ein monatliches Pflegegeld unter Berücksichtigung der Empfehlungen zu dessen Berechnung in einem regelmäßig aktualisierten Runderlass des Nds. Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung sowie in Anwendung seiner eigenen, von seinem Jugendhilfeausschuss beschlossenen „Richtlinien … für die Gewährung von Leistungen zum Unterhalt für außerhalb des Elternhauses untergebrachte Minderjährige und junge Volljährige“ (im Folgenden: Richtlinien) nebst regelmäßig aktualisierten Anlagen. Namentlich die Anlage 1 der Richtlinien, in der für die in den Richtlinien selbst festgelegten verschiedenen Formen der Vollzeitpflege differenzierende Beschreibungen der Bedarfslagen der zu betreuenden jungen Menschen und der fachlichen Anforderungen an die jeweiligen Pflegepersonen formuliert sind, basiert weitestgehend wort- bzw. jedenfalls inhaltlich deckungsgleich auf den sog. „Nds. Empfehlungen zur Pflegekinderhilfe“ des Landesjugendamtes (im Folgenden: Nds. Empfehlungen), die zuletzt im Juni 2016 aktualisiert worden sind (abrufbar unter: https://soziales.niedersachsen.de/live/search.php).
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Daneben leistete der Beklagte zeitweilig ergänzende ambulante Jugendhilfeleistungen für D. als Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII (Lerntherapie, Schulbegleitung/-assistenz, LRS-Therapie) und gewährte Kostenzuschüsse für bestimmte Aktivitäten H. (Schlagzeugunterricht) bzw. im Rahmen des Pflegeverhältnisses erforderliche Fahrten. Außerdem übernahm der Beklagte, nachdem er das zunächst abgelehnt hatte, ab Januar 2017 Kosten für eine von der Klägerin zu 2) in Anspruch genommene externe Supervision (1 h/Monat).
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Seit März 2021 erhielt D. von dem Beklagten zusätzlich Leistungen gemäß § 35a SGB VIII in Form eines trägerübergreifenden persönlichen Budgets in Höhe von 170,- EUR monatlich, welches nach den zu Grunde liegenden Zielvereinbarungen mit einem Stundensatz von 15,- EUR der Beschäftigung einer persönlichen Assistenz für die Alltagsbewältigung und Freizeitgestaltung im Umfang von 10 Stunden/Monat dienen sollte. Diese Leistung wurde nach dem Eintritt der Volljährigkeit fortgesetzt.
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Die Klägerin zu 2) absolvierte von 2011 – 2013 eine im Einzelnen nicht staatlich geregelte Schulung zu einer (sog.) systemischen Familienberaterin. Im Jahr 2013 nahm sie an einer ergänzenden Schulung zum Thema „Umgang mit frühen Störungen in der systemischen Familienberatung“, in den Jahren 2014 – 2015 an einer weiteren ergänzenden Schulung zum Thema „Beratung und Begleitung von Menschen mit FASD“ und im Jahr 2016 an einer ergänzenden Schulung zum Thema „systemische Zugänge bei schwierigem Verhalten von Kindern und Jugendlichen“ teil. Im Jahr 2014 nahm die Klägerin zu 2) zudem ein Studium der Sozialen Arbeit auf, welches sie im Januar 2021 erfolgreich abschloss.
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Mit anwaltlichem Schreiben vom 21.09.2016 beantragten die Kläger beim Beklagten schriftlich ausdrücklich die Heraufstufung der Vollzeitpflege in die Pflegeform 3 (sonderpädagogische Vollzeitpflege). Zur Begründung verwiesen sie einerseits auf die weitere pädagogische Qualifizierung der Klägerin zu 2) sowie andererseits auf den besonders erhöhten Betreuungsaufwand, der aus dem FASD und der daraus resultierenden Behinderung und den Verhaltensauffälligkeiten H. resultiere. U.a. in der Fortschreibung des Hilfeplans vom 28.11.2016 (GA, Bl. 66) werden insoweit die Angaben der Kläger zu näheren Einzelheiten des Alltags in der Familie wiedergegeben.
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Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit formlosem Schreiben vom 02.02.2017 ab. Zur Begründung ist darin ausgeführt, dass die Kläger sehr gut beschreiben könnten, dass es D. schwerfalle, Routinen in seinen Handlungsabläufen auszubilden, sich selbst und seinem Tag Struktur zu geben oder Handlungen gezielt zu planen. Oft müssten die Kläger insoweit korrigierend eingreifen, was D. als Frustration für sich erlebe und worauf er mit Impulsdurchbrüchen reagiere. Diese Einschränkungen in der Alltagskompetenz ließen sich vom häuslichen Umfeld auf alle anderen Lebensbereiche übertragen. Nach der von ihm – dem Beklagten – formulierten Richtlinie zur Einstufung der Pflegeverhältnisse seien unter Berücksichtigung der Bedarfslage H. und der ihm bereits ergänzend gewährten ambulanten Hilfen einerseits sowie in Abgrenzung zu anderen Pflegekindern in Vollzeitpflege mit einer noch intensiveren Bedarfslage andererseits die Bedingungen für eine Einstufung als sonderpädagogische Pflege nicht gegeben. Jene sei solchen Pflegeverhältnissen vorbehalten, bei denen weitere Belastungsfaktoren wie zusätzliche körperliche Beeinträchtigungen oder chronische Erkrankungen wie etwa Epilepsie oder Diabetes vorlägen, sich die Kinder im Grenzbereich zur geistigen Behinderung befänden oder pädagogisch bzw. therapeutisch kaum erreichbar seien, grenzüberschreitendes Verhalten bis hin zur Straffälligkeit zeigten oder auch mit erwachsener Anleitung nicht gruppenfähig seien. Das treffe auf D. nicht zu. Aus den Hilfeplangesprächen sei deutlich geworden, dass die Betreuung und Begleitung von D. gut gelinge, wenn er einen direkten erwachsenen Ansprechpartner habe, der sich auf ihn einlasse und ihm zeitnah Rückmeldungen und Strukturen biete. Darüber hinaus könnten individuelle Bedarfe in der Vollzeitpflege beantragt werden, wozu beispielsweise eine geeignete stundenweise Betreuungskraft zähle. Im Verlauf der Vollzeitpflege, d.h. mit zunehmendem Alter H. bleibe wichtig zu beobachten, wann eine Überleitung in den Bereich des SGB XII und damit eine langfristige Unterstützung H. sinnvoll sei. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf den Bescheid verwiesen.
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Die Kläger haben dagegen am 17.03.2017 Klage erhoben, zu deren Begründung sie im Wesentlichen vortragen:
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Die Einstufung des Pflegeverhältnisses in die Kategorie der sozialpädagogischen Vollzeitpflege sei fachlich nicht vertretbar und von einem etwaigen Beurteilungsspielraum des Beklagten deshalb nicht gedeckt. Ihr Pflegekind gehöre wegen seiner wesentlichen seelischen Behinderung in die Zielgruppe der sonderpädagogischen Vollzeitpflege. Er sei entgegen der Auffassung des Beklagten vom „Vollbild“ eines FASD betroffen. Es liege infolge des FASD eine dauerhafte hirnorganische Schädigung vor, bei der sämtliche Hirnregionen beeinträchtigt sein könnten. Besonders betroffen sei das Frontalhirn, welches für die Exekutivfunktionen (Handlung – Planung), die Impulssteuerung sowie das Lernen aus Erfahrung verantwortlich sei. Insbesondere die Beeinträchtigung der Exekutivfunktionen, die auch bei ihrem Pflegekind vorliege, führe zu einem erheblichen Bedarf an Beaufsichtigung und Anleitung. FASD-geschädigte Menschen seien daher in der Regel lebenslang für eine Reihe von häufig und wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung der persönlichen Existenz im Ablauf jeden Tages auf fremde Hilfe angewiesen und würden deshalb bundesweit von den Jugendhilfeträgern jedenfalls häufig der sonderpädagogischen Pflegeform zugerechnet. Der insoweit typische Hilfebedarf treffe auch auf D. zu, wie sich den insoweit gleichbleibenden Bedarfslagenbeschreibungen in den jeweiligen Hilfeplanprotokollen entnehmen lasse. D. benötige im Alltag viele Rituale, um nicht in Überforderung zu geraten, brauche bei der Körperhygiene stetige Anleitung und Kontrolle sowie beim Ankleiden Unterstützung, sei leicht ablenkbar und könne Aufträge nicht gut selbständig ausführen. Erschwerend kämen bei D. erhebliche Verhaltensauffälligkeiten und Einschränkungen im Sozialverhalten hinzu, denen nur mit einer besonderen pädagogischen Kompetenz angemessen begegnet werden könne. Die Kläger verweisen insoweit und zu den motorischen Einschränkungen H. auf die regelmäßigen Ambulanzbriefe der Tagesklinik E. (u.a. vom 12.02.2018; GA, Bl. 194 R f.) und der (seinerzeit) behandelnden Physiotherapeutin K. vom 02.02.2018 (GA, Bl. 200 f.). Die Klägerin zu 2) habe auf Grund ihrer vielfältigen Weiterbildungen und der bereits im Verlauf des Studiums erworbenen Kompetenzen mindestens seit der Antragstellung die in der Pflegeform 3 erforderliche Fachlichkeit aufgewiesen. Gerade diese besondere fachliche Kompetenz sei auch erforderlich (gewesen), um D. angemessen zu betreuen, weshalb sich auch innerfamiliär fast ausschließlich sie um ihn gekümmert habe und weiterhin kümmere. Allein die bereits im Jahr 2011 bei der Klägerin zu 2) vorhandenen pädagogischen Kenntnisse, die die Einstufung als sozialpädagogische Pflegeform ermöglicht hätten, hätten im weiteren Verlauf nicht mehr ausgereicht, um das Pflegeverhältnis aufrecht zu erhalten. Dass der Beklagte die Auffassung vertrete, D. sei nicht vom „Vollbild“ eines FASD betroffen und es träten nur gelegentliche „Belastungsspitzen“ auf, zeige, dass er sich mit diesem Behinderungsbild und den davon verursachten Beeinträchtigungen bei D. bisher nicht ausreichend auseinandergesetzt habe bzw. dieses fachlich nicht sachgerecht einschätzen könne. Das ergebe sich auch aus dem gesamten Hilfeverlauf, innerhalb dessen die Bedarfe H. vom Beklagten immer wieder „kleingeredet“ worden seien und zusätzliche Hilfen nach § 35a SGB VIII sowie z. B. eine regelmäßige Supervision für die Klägerin zu 2) in mühsamen und kräftezehrenden Diskussionen hätten durchgesetzt werden müssen. Soweit der Beklagte vertrete, dass die behinderungsbedingten spezifischen Bedarfe H. im Übrigen auch durch Leistungen seitens der Pflegeversicherung gedeckt seien, verkenne er die Rechtslage. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei geklärt, dass die seitens der Pflegeversicherung gewährten Leistungen mangels einer entsprechenden Rechtsgrundlage nicht auf die Leistungen im Rahmen der Vollzeitpflege anzurechnen seien.
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Die Kläger beantragen,
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den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 02.02.2017 zu verpflichten, ihnen nach Maßgabe seiner Richtlinie für die Gewährung von Leistungen zum Unterhalt für außerhalb des Elternhauses untergebrachte Minderjährige und junge Volljährige nebst Anlagen rückwirkend ab dem Zeitpunkt des Eingangs des dahingehenden Antrages beim Beklagten bis zum Eintritt der Volljährigkeit ihres Pflegekindes eine erhöhte Betreuungspauschale im Rahmen der gewährten Hilfe zur Erziehung unter Einstufung des Pflegeverhältnisses als sonderpädagogische Vollzeitpflege (Pflegeform 3) zu gewähren.
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Der Beklagte beantragt,
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die Klage abzuweisen.
Entscheidungsgründe
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Er verteidigt den angegriffenen Bescheid und trägt insoweit im Wesentlichen vor:
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Es sei durchaus zweifelhaft, ob die für D. vorgenommene FASD-Diagnose zutreffend, bzw. jedenfalls, dass er von dem „Vollbild“ einer entsprechenden Behinderung betroffen sei. Unabhängig davon halte sich die Einstufung des Pflegeverhältnisses in die Pflegeform 2 im Rahmen seines fachlichen Beurteilungsspielraums. In der Anlage 1 zu seinen von den Klägern in Bezug genommenen Richtlinien habe er eine ausführliche, fachlich begründete allgemeine Differenzierung der verschiedenen Pflegeformen vorgenommen und dabei das Schädigungsbild FASD fachlich vertretbar grundsätzlich der Pflegeform 2 zugeordnet. Seine Richtlinien und die Anlage beruhten insoweit auf entsprechenden Empfehlungen des Nds. Landesjugendamtes („Nds. Empfehlungen“), in denen als Beispiel für die Zuordnung zur Pflegeform 2 u.a. „Risikofaktoren in der Vorgeschichte des Kindes wie …Alkoholembryopathie“ benannt seien. Auch andere überörtliche Jugendhilfeträger hätten insoweit vergleichbare Empfehlungen veröffentlicht. Gleichwohl nehme er auch bei Pflegekindern mit dem Störungsbild FASD in jedem Einzelfall eine individuelle Einstufung anhand des konkret feststellbaren Bedarfs vor, weshalb im Einzelfall nach dem Ausprägungsgrad eine Einstufung in die Pflegeform 3 auch nicht ausgeschlossen sei. Für das streitbefangene Pflegeverhältnis hätten seine Fachkräfte, ebenso wie bereits die Fachkräfte des zuvor zuständigen Jugendhilfeträgers (LK J.), bei der Beurteilung der individuellen Bedarfslage eine Einstufung H. in die Pflegeform 3 nicht für geboten erachtet, da sich seine Bedarfslage gegenüber anderen Kindern, die etwa zusätzlich zu einer seelischen Behinderung auch körperlich bzw. geistig behindert oder chronisch bzw. lebensbedrohlich erkrankt seien, als deutlich weniger intensiv darstelle. Er habe zu keinem Zeitpunkt in Abrede gestellt, dass D. einer (zeit-)intensiven, kleinteiligen Betreuung durch eine fachlich besonders geschulte Pflegeperson bedürfe. Dieser Bedarf werde vielmehr in allen Hilfeplanprotokollen beschrieben. Das allein rechtfertige die Einstufung in die Pflegeform 3 aber noch nicht, sondern werde mit der Einstufung in die Pflegeform 2 angemessen berücksichtigt. Dass D. von der Pflegeversicherung der Pflegegrad 3 zuerkannt worden sei, führe zudem nicht zu der Bewertung, dass er im Sinne der Richtlinien als „wesentlich behindert“ anzusehen sei. Vielmehr treffe das nur auf Personen zu, die anspruchsberechtigt nach den §§ 53, 54 SGB XII a. F. bzw. nunmehr § 99 SGB IX in Verbindung mit der EingliederungshilfeVO seien, wozu D. nicht gehöre. Bei ihm liege eine wesentliche Einschränkung in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft nicht vor. Vielmehr habe er gezeigt, dass er sowohl im schulischen als auch im außerschulischen Bereich mit entsprechender erwachsener Begleitung in der Lage sei, sich in Gruppen zu inte-grieren und an entsprechenden Aktivitäten teilzunehmen. Auch dass D. von der dafür zuständigen Behörde ein GdB von 70 zuerkannt worden sei, zwinge nicht zu einer anderen Beurteilung, denn die Bewertung eines ggf. vorliegenden GdB vollziehe sich nach anderen Kriterien als die fachliche Beurteilung des jugendhilferechtlichen Hilfebedarfs. Zudem sei diese Einstufung offenbar längere Zeit nicht mehr überprüft worden. Für eine Einstufung als sonderpädagogische Vollzeitpflege habe der Klägerin zu 2) schließlich jedenfalls bis zum erfolgreichen Abschluss ihres Studiums die nach seinen Richtlinien dafür erforderliche besondere Fachlichkeit gefehlt.
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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird ergänzend auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, das Protokoll der mündlichen Verhandlung sowie den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.
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