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Fraktion intern: Die hohen Energiepreise sind eine Riesenbelastung für die Verbraucher:innen. Mit zwei Entlastungspaketen hilft die Koalition ihnen. Was war Ihnen besonders wichtig?
Matthias Miersch: Mir und der SPD-Bundestagsfraktion war besonders wichtig, dass wir sowohl die Arbeitslosengeld II-Bezieher:innen, aber insbesondere auch die Familien und jene Bürger:innen mit niedrigen und mittleren Einkommen entlasten. Das sind Milliarden, die jetzt an sie fließen werden. Als starkes Signal auch für den Klimaschutz sehe ich die Aktion, mit der wir den Öffentlichen Personennahverkehr vergünstigen, das Neun-Euro-Ticket für drei Monate.
Fraktion intern: Warum waren die Verhandlungen so schwierig? Sie haben eine ganze Nacht durchverhandelt.
Matthias Miersch: Die FDP hat ja einen sehr stark marktorientierten Ansatz. Ich finde, dass wir jetzt hautnah erleben, dass Energie auch Daseinsvorsorge ist. Das heißt, der Staat muss garantieren, dass Energie verfügbar und auch bezahlbar ist. Christian Lindner hatte zunächst einen Tankrabatt in den Vordergrund gestellt. Mir war es wichtig, die Lebenshaltungskosten insgesamt in den Blick zu nehmen. Denn Energie ist weitaus mehr als Benzin. Es geht um Heizkosten, es geht um Nahrungsmittel und viele weitere betroffene Lieferketten.
Fraktion intern: Was wäre denn an dem Entlastungspaket anders gewesen, wenn Sie hätten allein entscheiden können?
Matthias Miersch: Wir hätten sicherlich noch mal geguckt, wie man noch weitere Gruppen erreichen kann, zum Beispiel die Renter:innen. Die profitieren jetzt mittelbar durch die Ermäßigung im öffentlichen Personennahverkehr und die Abschaffung der EEG-Umlage. Aber bei den direkten Transferzahlungen, da wäre sicherlich noch ein Ausbau möglich.
Fraktion intern: Wie viel kostet das Ganze?
Matthias Miersch: Ich rechne damit, dass beide Entlastungspakete insgesamt circa 30 Milliarden Euro kosten.
Fraktion intern: Das müssen wir über Schulden finanzieren.
Matthias Miersch: Richtig, das wird man auch über Schulden finanzieren müssen. Gerade in Krisensituationen muss der Staat gegensteuern, entlasten und in zukunftsfähige Alternativen investieren.
Fraktion intern: Die Energiekosten werden aber absehbar hoch bleiben. Kann der Staat das unbegrenzt ausgleichen? Was ist mit der Schuldenbremse?
Matthias Miersch: Ich bin mir sicher, dass die Einsicht wachsen wird, dass gerade in dieser Phase, in der wir nicht nur Corona als Herausforderung haben, sondern eben auch die Kriegssituation, dass wir die Schuldenbremse so nicht als feste Größe in diesem Jahr und im nächsten Jahr beurteilen können, sondern dass wir vor allen Dingen investieren und absichern müssen. Und wir werden auch über die Einnahmeseite noch einmal reden müssen. Es gibt ja durchaus Krisengewinner, und dass die an den Folgekosten beteiligt werden, finde ich richtig, wie zum Beispiel auch die Energiekonzerne.
Fraktion intern: Können wir eine Priorisierung unserer Ausgaben wirklich vermeiden?
Matthias Miersch: Natürlich priorisieren wir. Wir verschleudern das Geld ja nicht einfach, sondern wir finanzieren Dinge, die für den Zusammenhalt dieser Gesellschaft ganz essenziell sind – wie die Kindergrundsicherung oder einen höheren Mindestlohn. Und dass aufgrund der Energiepreise auch Bereiche mittleren Einkommens unter Druck geraten sind, zeigt, dass in diesen Zeiten Solidarität organisiert werden muss. Wir haben uns in den letzten Jahren auch dank der Politik von Olaf Scholz als Finanzminister finanzpolitisch besser aufgestellt als viele, viele andere Länder auf dieser Welt, sodass wir uns auch einiges leisten können.
Fraktion intern: Die EU will ein Embargo auf Kohle aus Russland verhängen. Was wird das für Auswirkungen in Deutschland haben, auch auf die Energiepreise?
Matthias Miersch: Das werden wir sehen müssen. Die Unternehmen haben schon begonnen, die Kohle aus anderen Regionen zu beziehen. Mit verschärften Gesetzen zum Wettbewerb, die wir mit dem Osterpaket auf den Weg gebracht haben, werden wir aber den Preisdruck künftig besser kontrollieren können.
Fraktion intern: Kann das Kohle-Embargo genügend Wirkung entfalten, um Putin ernsthaft unter Druck zu setzen?
Matthias Miersch: Ich finde es schwierig, auch mit Blick auf andere Embargos, zu sagen, das oder jenes setzt Putin genug unter Druck, sodass er Friedensverhandlungen führt. Wir erhöhen den Druck auf das russische Regime mit jedem Schritt. Und gleichzeitig arbeiten wir uns heraus aus energiewirtschaftlichen Abhängigkeiten. Im Hörsaal funktioniert Schwarz-Weiß und dort hat vielleicht jede Handlung eine unmittelbare Wirkung zur Folge, die Realität fordert oft kleinere Schritte zum Ziel.
Fraktion intern: Ein Embargo auf russisches Gas können wir uns offenbar nicht leisten – die Bundesregierung ist weiter dagegen.
Matthias Miersch: Dadurch, dass wir als eine der wenigen industriell hochentwickelten Nationen aus Kohle und aus Atom gleichermaßen aussteigen, wächst der Druck auf die Bundesrepublik Deutschland, Gas als Brücke zu nutzen. Und es geht nicht nur um die Bezahlbarkeit von Energie, sondern um Versorgungssicherheit. Ich bin mir sehr sicher, dass wir mit einem Embargo richtig in Schwierigkeiten kommen würden. Wirtschaftspolitisch würde das teilweise enorme Folgen hier in Deutschland haben, bis hin zur Massenarbeitslosigkeit. Wenn einige Wissenschaftler:innen lapidar behaupten, dass wir mit ein bisschen weniger Raumtemperatur das Gas aus Russland nicht mehr brauchen, halte ich das für brandgefährlich und realitätsfern.
Fraktion intern: Dennoch: Wie lange können wir das wirklich durchhalten? Menschen sterben in der Ukraine. Die Forderungen nach einem Embargo werden immer lauter nach den Gräueltaten in Butscha. Auch EU-Partner üben Druck aus.
Matthias Miersch: Wie gesagt: ein Gas-Embargo würde massive Auswirkungen haben. Russland hat ja durchaus auch Alternativen, wohin es sein Gas liefern könnte, wie etwa nach China. Man kann also nicht davon ausgehen, dass Putin mit dem Krieg aufhört, wenn wir die Importe stoppen. Im Gegenteil, es könnte sogar zu einer weiteren Verschärfung dieser Eskalation kommen. Und deswegen bin ich immer vorsichtig mit ganz schnellen, moralisch populären Forderungen, die aber möglicherweise genau das Gegenteil bewirken. Natürlich ist das ein Prozess. Ich kann heute nicht ausschließen, dass es zu einem vollständigen Embargo kommt. Es kann sogar sein, dass Putin den Hahn abdreht.
Fraktion intern: Was, wenn Putin chemische Waffen einsetzt?
Matthias Miersch: Natürlich wäre ein Einsatz chemischer und biologischer Waffen noch einmal eine weitere Eskalationsstufe, die in irgendeiner Form beantwortet werden muss. Aber ich wiederhole: Unsere Wirtschaft ist sehr, sehr anfällig bei Energie. Wenn bestimmte Maßnahmen unsere Gesellschaft massiv destabilisieren würden, muss man überlegen, ob man das in Kauf nehmen will. Eine Glashütte beispielsweise, die man einmal herunterfährt, lässt sich so schnell nicht mehr hochfahren. Und davon hängen Existenzen ab. Im Moment bin ich nicht bereit, diesen letzten Schritt der Sanktionen schon zu gehen, auch weil ich nicht weiß, was er für eine Wirkung auf das Kriegsgeschehen hätte.
Fraktion intern: Was würde denn ganz konkret passieren, wenn Putin den Hahn zudreht?
Matthias Miersch: Wir würden erst einmal auf unsere Reserven zurückgreifen. Gott sei Dank haben wir augenblicklich den Übergang in den Frühling. Ich gehe davon aus, dass wir eine gewisse Zeit auch ohne Gas, Kohle und Öl aus Russland klarkommen könnten. In Notfallplänen ist jedenfalls sehr klar festgelegt, was passiert. Die Industrie müsste dann ihren Beitrag leisten, damit die Versorgung der Verbraucher:innen in Deutschland gewährleistet bliebe. Das heißt, wir würden uns als erstes anschauen müssen, welche Produktionsstätten stillgelegt oder heruntergefahren werden könnten zugunsten anderer, die wirtschaftspolitisch überlebensnotwendig sind, aber auch von den Produkten, die hergestellt werden. Mit Sicherheit würden auch Arbeitnehmer:innen ihren Arbeitsplatz verlieren, weil die Produktion nicht läuft.
Fraktion intern: Klar ist, wir müssen unabhängig werden von russischer Energie. Die Energiewende ist also jetzt auch geostrategisch begründet, kann man auch in der Energiepolitik von einer Zeitenwende sprechen?
Matthias Miersch: Die hat in dem Bereich schon früher begonnen. Ich arbeite seit 16 Jahren daran. Der maximale Ausbau der Erneuerbaren Energien ist der Schlüssel, um den Klimaschutz in unserem hochindustrialisierten Land voranzubringen und energiepolitisch unabhängiger zu werden. Mit einer Solar- und Windkraftoffensive entfesseln und beschleunigen wir nun endlich den Ausbau der Erneuerbaren Energien. Klimaneutralität bis 2045 und ein maximaler Ausbau der Erneuerbaren Energien waren zentrale Wahlkampfversprechen der SPD. Während in der großen Koalition mit der Union nur Trippelschritte möglich waren, ist jetzt mit den Grünen und der FDP echter Fortschritt möglich. Gemeinsam werden wir zahlreiche Verfahrensvereinfachungen für den Ausbau von Erneuerbaren Energien durchsetzen.
Das Thema „Geostrategie“ ist im Übrigen nicht neu: Auch die Energielieferungen, die wir über Jahrzehnte aus Saudi-Arabien oder aus Katar bekommen haben und auch jetzt kaufen, sind mit Blick auf Menschenrechte und Demokratie problematisch. Wir müssen auf Europa setzen, auch im Energiebereich. In Europa können wir ganz, ganz viel mit Kooperation wuppen. In Norwegen gibt es große Wasserkraft-Potenziale, in Portugal und Spanien gibt es viel Sonne und Wind.
Fraktion intern: Diese neuen Allianzen müssen dann aber schnell entstehen.
Matthias Miersch: Erst einmal müssen wir in Deutschland unsere Hausaufgaben machen. Jede Kilowattstunde, die wir hier erneuerbar produzieren oder einsparen, reduziert unsere Abhängigkeit von anderen Staaten. Es ist eine Riesentransformation, eine große Umwandlung der Energiepolitik notwendig. Das war vor der Ukrainekrise so und das wird auch danach so sein.
Fraktion intern: Bis wann können wir es schaffen, von Russland unabhängig zu sein?
Matthias Miersch: Das hängt sehr davon ab, wie schnell wir beim Ausbau der Erneuerbaren Energien vorankommen und wie wir die Verträge etwa für Flüssiggas mit anderen Staaten hinbekommen. Aber ich glaube schon, dass es uns gelingen kann, in drei, vier Jahren eine völlige Autarkie von Russland zu erreichen.
Fraktion intern: Der Druck, von Russland unabhängig zu werden, ist sehr groß. So groß, dass der Ausbau der Erneuerbaren möglicherweise nicht schnell genug ist. Gefährdet dieser Druck, dass wir unsere Klimaschutzziele erreichen? Die Ampel will die Stilllegung von Kohlekraftwerken aussetzen.
Matthias Miersch: Das sind Reserven, die im Zweifel gehoben werden müssen. Wir wollen ja erst bis 2045 treibhausgasneutral werden. Diese Reserve-Kraftwerke werden wir nicht brauchen, wenn wir bei den Erneuerbaren schnell weiterkommen. Ich glaube, am Ende kann aus dieser Krise auch eine Riesenchance werden, dass es bei den Erneuerbaren schneller geht, weil sich individuelle Widerstände nicht mehr rechtfertigen lassen. Der Ausbau der Erneuerbaren Energien ist von überragendem öffentlichen Interesse. Individuelle Interessen müssen im Zweifel dann zurücktreten. In Bayern etwa hemmt die Diskussion um den Mindestabstand von Windrädern zu Wohngebäuden den Ausbau von Windkraft massiv. Das können wir uns in dieser Zeit nicht mehr leisten. Wenn solche Widerstände verschwinden, dann können wir unsere Klimaschutzziele auf alle Fälle erreichen. Wir können an der einen oder anderen Stelle sogar noch beschleunigen.
Fraktion intern: Was ist mit der Atomkraft? Die FDP schlägt eine Laufzeitverlängerung vor, und die EU-Kommission sieht den Beitrag der Atomkraft zur Energieunabhägigkeit auch als Möglichkeit.
Matthias Miersch: Ich kann für mich ganz klar sagen, dass ich es für absolut fatal hielte, wenn hier wieder an der Laufzeitverlängerung gedreht werden würde. Wir haben endlich Rechtssicherheit geschaffen. Außerdem ist Atomkraft weder nachhaltig, noch billig. Wenn man die Endlager-Kosten alleine einpreisen würde, wäre es schon unbezahlbar, und wir haben weltweit noch kein eingerichtetes Endlager. Wir überlassen 30.000 Generationen nach uns hoch gefährlichen Müll. Atomkraft ist energiepolitisch, rechtspolitisch und finanzpolitisch eine Sackgasse. Insofern muss die Antwort der maximale Ausbau der Erneuerbaren Energien sein.
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