Verfahrensinformation
Mindestabstand im öffentlichen Raum und Verbot von Ansammlungen durch die Sächsische Corona-Schutz-Verordnung vom 17. April 2020
Der Antragsteller wendet sich mit seinem Normenkontrollantrag gegen die Verordnung des Sächsischen Staatsministeriums für Soziales und Gesellschaftlichen Zusammenhalt zum Schutz vor dem Coronavirus SARS-CoV-2 und COVID-19 (SächsCoronaSchVO) vom 17. April 2020, soweit diese im öffentlichen Raum einen Mindestabstand von 1,5 Metern anordnete (§ 2 Abs. 2) und – mit einem Genehmigungsvorbehalt – Ansammlungen von Menschen verbot (§ 3 Abs. 1 und 3).
Zur Begründung hat er geltend gemacht: Er sei mit vielen in der Verordnung vorgesehenen grundrechtseinschränkenden Maßnahmen nicht einverstanden gewesen und habe gemeinsam mit weiteren Personen seine Meinung dazu vor dem Haupteingang des zuständigen Staatsministeriums kundtun wollen. Zudem habe er sich mit zwei Personen in seiner Wohnung zusammensetzen wollen, um über die Maßnahmen zu debattieren und ein politisches Engagement zu planen. Beides sei ihm ohne vorherige Beantragung einer Ausnahmegenehmigung verwehrt gewesen. Den Mindestabstand wolle er einhalten. Da dies aber nicht ausnahmslos möglich sei, habe der Verordnungsgeber lediglich eine Soll-Vorschrift schaffen dürfen.
Das Oberverwaltungsgericht hat den Antrag abgelehnt. Die Regelung über den Mindestabstand sei nicht zu beanstanden. Mit Blick auf die in § 2 Abs. 1 SächsCoronaSchVO geregelten Ausnahmen und wegen des gebotenen Ausschlusses zufälliger oder individuell unvermeidbarer Kontakte sei sichergestellt gewesen, dass vom Adressaten nichts Unmögliches verlangt werde.
Auch der in § 3 Abs. 3 SächsCoronaSchVO festgelegte Genehmigungsvorbehalt für Versammlungen sei unbedenklich. Er habe nicht gegen das Grundrecht der Versammlungsfreiheit verstoßen. Er habe sich nur auf die Einhaltung infektionsschutzrechtlicher Vorgaben gerichtet und Versammlungen nicht einer umfassenden und damit verfassungswidrigen Vorprüfung unterstellt. Sonstige Voraussetzungen, die vor einer Genehmigung zu erfüllen waren, seien nicht aufgestellt worden. Auch habe er entsprechend der zeitlichen Geltung der Verordnung nur für 13 Tage bestanden. Der Eingriff in die Versammlungsfreiheit sei verhältnismäßig gewesen. Angesichts der seinerzeit herrschenden Unsicherheit über die Übertragungswege und die Gefährlichkeit einer Infektion mit dem Coronavirus, fehlender Gegenmittel und der grundsätzlich empfohlenen Kontaktbeschränkung als Basisschutzmaßnahme habe es sich bei den in den nachfolgenden Verordnungen festgelegten Beschränkungen von Versammlungen in Ablauf und Umfang nicht offensichtlich um eine gleich geeignete, aber mildere Maßnahme gehandelt.
Schließlich sei auch kein Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz festzustellen, soweit nach § 3 Abs. 2 SächsCoronaSchVO u.a. Gottesdienste keiner Genehmigung bedurften. Bei Gottesdiensten mit bis zu 15 Personen seien im Gegensatz zu sonstigen Versammlungen in ihrer vielgestaltigen Ausprägung typischerweise nur geringe Infektionsgefahren zu erwarten.
Hiergegen richtet sich die vom Oberverwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassene Revision des Antragstellers.
Pressemitteilung Nr. 49/2023 vom 21.06.2023
Untersagung von Versammlungen durch die Sächsische Corona-Schutz-Verordnung vom 17. April 2020 war unverhältnismäßig
Die Regelungen der Sächsischen Corona-Schutz-Verordnung vom 17. April 2020 (SächsCoronaSchVO) über die Zulässigkeit von Versammlungen waren mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit nicht vereinbar. Das hat das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig heute entschieden.
Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 SächsCoronaSchVO* waren alle Veranstaltungen, Versammlungen und sonstigen Ansammlungen untersagt. Im Einzelfall konnten Ausnahmegenehmigungen auf Antrag insbesondere für Versammlungen im Sinne des Sächsischen Versammlungsgesetzes vom zuständigen Landkreis oder der zuständigen Kreisfreien Stadt erteilt werden, wenn dies aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar war (§ 3 Abs. 3 SächsCoronaSchVO). Das Sächsische Oberverwaltungsgericht hat den Antrag einer Privatperson, festzustellen, dass diese Vorschriften unwirksam waren, abgelehnt. Das Bundesverwaltungsgericht hat das Urteil des Sächsischen Oberverwaltungsgerichts geändert und festgestellt, dass § 3 Abs. 1 Satz 1 SächsCoronaSchVO unwirksam war, soweit er Versammlungen untersagt hat.
Das Oberverwaltungsgericht hat ohne Verstoß gegen Bundesrecht angenommen, dass Untersagungen von Versammlungen auf § 28 Abs. 1 i. V. m. § 32 des Infektionsschutzgesetzes in der Fassung des Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 27. März 2020 (IfSG) gestützt werden konnten (vgl. zu Kontaktbeschränkungen und der Schließung von Gastronomiebetrieben und Sportstätten Urteil des Senats vom 22. November 2022 – 3 CN 1.21 – PM Nr. 69/2022). Auch durfte der Verordnungsgeber davon ausgehen, dass Schutzauflagen – z. B. Abstandsgebote – das Ziel, physische Kontakte zu vermeiden, um die Ausbreitung von COVID-19 zu verlangsamen, nicht ebenso wirksam erreicht hätten wie ein generelles Versammlungsverbot. Dieser Zweck und die zu erwartende Zweckerreichung standen jedoch außer Verhältnis zur Schwere des Grundrechtseingriffs. Die Untersagung aller Versammlungen durch § 3 Abs. 1 SächsCoronaSchVO war ein schwerer Eingriff in die Versammlungsfreiheit (Art. 8 Abs. 1 GG), die für eine freiheitlich-demokratische Grundordnung konstituierend ist. Der Ausnahmevorbehalt in § 3 Abs. 3 SächsCoronaSchVO minderte das Gewicht des Eingriffs nur unwesentlich. Die Vorschrift ließ nicht erkennen, unter welchen Voraussetzungen Versammlungen infektiologisch vertretbar sein könnten, und selbst für infektiologisch vertretbare Versammlungen stellte sie die Erteilung der Genehmigung in das Ermessen der Behörde. Eine nachträgliche Konkretisierung der Genehmigungsvoraussetzungen durch die Rechtsprechung könnte daran für die auf zwei Wochen begrenzte Geltungsdauer der Verordnung nichts mehr ändern. Auf der anderen Seite durfte der Verordnungsgeber das Risiko für Leben und Gesundheit im Zusammenhang mit COVID-19 weiterhin als hoch einschätzen. Er sah angesichts der Verlangsamung der Infektionsgeschwindigkeit in Sachsen aber Spielraum für schrittweise Lockerungen gegenüber den Beschränkungen durch die Verordnung vom 31. März 2020. In dieser Situation wurde ein generelles Versammlungsverbot, das lediglich durch einen nicht konkretisierten Ausnahmevorbehalt geöffnet war, der Bedeutung der Versammlungsfreiheit für ein freiheitliches Staatswesen nicht gerecht. Der Verordnungsgeber hätte selbst regeln müssen, unter welchen Voraussetzungen Versammlungen infektiologisch vertretbar sein können, um zumindest Versammlungen unter freiem Himmel mit begrenzter Teilnehmerzahl unter Beachtung von Schutzauflagen wieder möglich zu machen. Nur so hätte er die erforderliche Rechtssicherheit für Bürger und Behörden schaffen können.
Den Antrag festzustellen, dass das Gebot, im öffentlichen Raum einen Mindestabstand von 1,5 m außer zu bestimmten Personen einzuhalten (§ 2 Abs. 2 SächsCoronaSchVO*), unwirksam war, hat das Oberverwaltungsgericht hingegen ohne Bundesrechtsverstoß abgelehnt. Insoweit hatte die Revision des Antragstellers keinen Erfolg.
Fußnote:
Auszug aus der SächsCoronaSchVO vom 17. April 2020
§ 2 Kontaktbeschränkung
(1) Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist ausschließlich alleine oder in Begleitung der Partnerin oder des Partners beziehungsweise mit Angehörigen des eigenen Hausstandes oder mit einer weiteren nicht im Hausstand lebenden Person oder zur Wahrnehmung des Sorge- und Umgangsrechts gestattet.
(2) Im öffentlichen Raum ist ein Mindestabstand von 1,5 Metern außer zu den in Absatz 1 genannten Personen einzuhalten.
§ 3 Verbot von Ansammlungen von Menschen
(1) Alle Veranstaltungen, Versammlungen und sonstige Ansammlungen sind untersagt. …
(3) Im Einzelfall können Ausnahmegenehmigungen auf Antrag insbesondere für Versammlungen im Sinne des Sächsischen Versammlungsgesetzes vom zuständigen Landkreis oder der zuständigen Kreisfreien Stadt erteilt werden, soweit dies aus infektionsschutzrechtlicher Sicht vertretbar ist.
Auszug aus dem Infektionsschutzgesetz a.F.
(1) Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige … festgestellt …, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, … soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten. Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten … . … Die Grundrechte …, der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 des Grundgesetzes), … werden insoweit eingeschränkt.
§ 32 Erlass von Rechtsverordnungen
Die Landesregierungen werden ermächtigt, unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 31 maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen. … Die Grundrechte …, der Versammlungsfreiheit (Artikel 8 Grundgesetz), … können insoweit eingeschränkt werden.
Auszug aus dem Grundgesetz
(1) Alle Deutschen haben das Recht, sich ohne Anmeldung oder Erlaubnis friedlich und ohne Waffen zu versammeln.
(2) Für Versammlungen unter freiem Himmel kann dieses Recht durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes beschränkt werden.
BVerwG 3 CN 1.22 – Urteil vom 21. Juni 2023
Vorinstanz:
OVG Bautzen, OVG 3 C 20/20 – Urteil vom 16. Dezember 2021 –
Vermisst – 7-jährige Tara R. aus Gaildorf-Ottendorf – Wer kann Hinweise geben